Wikipedia Teil 1

Wikipedia ist eine der bemerkenswertesten Errungenschaften des digitalen Zeitalters: die größte Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte, frei zugänglich für jeden mit Internetanschluss. Mit 64,6 Millionen Artikeln in 338 Sprachversionen und monatlich 11 Milliarden Besuchen hat sie sich zu einem globalen Wissensfundament entwickelt, das wir oft als selbstverständlich betrachten.

Doch hinter der schlichten Oberfläche verbirgt sich ein komplexes Ökosystem aus engagierten Menschen, ausgeklügelter Infrastruktur und einer bemerkenswerten Organisationsstruktur. In diesem ersten Teil unserer Wikipedia-Serie beleuchten wir das "Backend" der Online-Enzyklopädie – von der Gemeinschaft der Wikipedianer:innen über die technischen Grundlagen bis hin zur Geschichte dieser revolutionären Wissensplattform.

Die verborgene Armee: Wer sind die Wikipedianer:innen?

Wikipedia funktioniert dank einer relativ kleinen, aber hochengagierten Gemeinschaft. Aktuelle Zahlen zeigen: Weltweit gibt es etwa 250.000 aktive Wikipedianer:innen (definiert als Nutzer:innen, die mindestens fünf Bearbeitungen pro Monat vornehmen). Die deutsche Wikipedia-Community umfasst dabei rund 20.000 aktive Mitglieder. Doch der harte Kern, der den Großteil der Arbeit erledigt, ist deutlich kleiner: Nur etwa 6.000 Menschen kümmern sich um etwa 80% der Inhalte in der deutschen Wikipedia.

Diese Zahlen offenbaren ein bemerkenswertes Verhältnis: Eine der meistbesuchten Websites der Welt mit 11 Milliarden monatlichen Besuchen wird von einer relativ kleinen Gruppe betrieben. Die Bearbeitungsaktivität ist dabei beeindruckend: Weltweit werden 18 Bearbeitungen pro Sekunde vorgenommen, während allein die englische Wikipedia etwa 4.000 Seitenaufrufe pro Sekunde verzeichnet.

Der demographische Aspekt der Autorenschaft zeigt eine signifikante Unausgewogenheit: Studien belegen, dass etwa 80-90% der Autor:innen männlich sind, überwiegend aus westlichen Ländern stammen und über einen hohen Bildungsabschluss verfügen. Diese Schieflage hat direkte Auswirkungen auf die Inhalte. Während technische und naturwissenschaftliche Themen oft umfassend behandelt werden, sind kulturelle Themen aus nicht-westlichen Ländern oder typischerweise weiblich konnotierte Interessensbereiche oft unterrepräsentiert – ein Problem, das die Community selbst erkannt hat und durch gezielte Initiativen wie den "Women in Red"-Editathon zu beheben versucht.

Die technische Infrastruktur und der tägliche Kampf im Hintergrund

Die technische Infrastruktur hinter Wikipedia ist beeindruckend: Jede Sekunde werden weltweit etwa 18 Bearbeitungen vorgenommen, während allein die englische Wikipedia 4.000 Seitenaufrufe pro Sekunde verzeichnet. Diese konstante Aktivität summiert sich auf Hunderte Millionen Bearbeitungen seit der Gründung im Jahr 2001.

Um dieses Volumen zu bewältigen, haben Wikipedianer:innen ein komplexes Ökosystem aus Werkzeugen entwickelt. "Bots" – automatisierte Programme – übernehmen etwa 15% aller Bearbeitungen und kümmern sich um Routineaufgaben wie die Korrektur von Rechtschreibfehlern oder das Hinzufügen von Kategorien. Tools wie der "Recent Changes Patrol" helfen der Community, verdächtige Bearbeitungen schnell zu identifizieren.

Die Nutzungsdaten sprechen für sich: Durchschnittlich verbringen Besucher 10 Minuten und 37 Sekunden pro Besuch auf der Seite. Die Traffic-Quellen sind dabei aufschlussreich: 78% der Besucher kommen über Suchmaschinen, während bei den sozialen Medien Reddit (34,52%) und YouTube (29,6%) die Hauptverweisquellen darstellen.

Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Wikipedia sind bemerkenswert dezentral. Bei Konflikten über Inhalte oder Richtlinien wird nach dem Konsensprinzip entschieden – ein oft langwieriger, aber demokratischer Prozess. Nur in schweren Fällen greifen Administratoren ein, die von der Community gewählt wurden und zusätzliche Rechte besitzen.

Wikimedia: Die Organisation hinter dem Phänomen

Während die Wikipedia-Inhalte von Freiwilligen erstellt werden, sorgt die Wikimedia Foundation für das organisatorische Fundament. Die 2003 gegründete gemeinnützige Organisation mit Sitz in San Francisco ist verantwortlich für die Server-Infrastruktur, die rechtlichen Aspekte und die technische Weiterentwicklung der Plattform.

Die Finanzierung des Projekts ist bemerkenswert transparent: Im Jahr 2024 verzeichnete die Foundation Spendeneinnahmen von 185,35 Millionen US-Dollar bei Ausgaben von 178,47 Millionen US-Dollar. Das Nettovermögen der Organisation beläuft sich auf 271,5 Millionen US-Dollar. Diese finanziellen Ressourcen unterstützen nicht nur Wikipedia selbst, sondern auch Schwesterprojekte wie Wikimedia Commons, das mittlerweile 116,4 Millionen Mediendateien hostet, oder Wikidata, eine strukturierte Wissensdatenbank.

Neben der internationalen Foundation existiert ein Netzwerk unabhängiger nationaler Organisationen. Wikimedia Deutschland e.V. ist mit rund 80 Mitarbeitenden einer der größten nationalen Ableger. Wikimedia Österreich operiert mit 5 Mitarbeitern und einem jährlichen Budget von etwa 400.000 Euro deutlich kleiner, aber nicht weniger effektiv. Diese lokalen Organisationen fördern die Wikipedia-Community durch technische und organisatorische Unterstützung, Bildungsprogramme und die Vertretung rechtlicher Interessen.

"Das Besondere an der Struktur ist, dass die Wikimedia Foundation zwar die Server betreibt und die Software entwickelt, aber keinen direkten Einfluss auf die Inhalte nimmt", erklärt Cornelius Kibelka, ehemaliger Programmleiter bei Wikimedia Deutschland, in einem ARD-Podcast zum Thema. "Die Inhalte werden vollständig von der Community kontrolliert – das ist ein fundamentales Prinzip."

Vom "Wiki Wiki Web" zur globalen Wissensplattform

Die Geschichte von Wikipedia beginnt nicht mit Wikipedia selbst, sondern mit einem Konzept namens "Wiki". Der Begriff stammt aus dem Hawaiianischen und bedeutet "schnell". Der Programmierer Ward Cunningham entwickelte 1995 die erste Wiki-Software, das "WikiWikiWeb", als eine einfache Möglichkeit für Programmierer, Wissen auszutauschen und gemeinsam zu bearbeiten.

Die eigentliche Wikipedia entstand am 15. Januar 2001 als Nebenprojekt eines kommerziellen Online-Lexikons namens Nupedia. Während Nupedia auf einen aufwändigen Peer-Review-Prozess mit Experten setzte, sollte Wikipedia ein schnellerer, offenerer Raum sein, in dem Artikel entwickelt werden konnten, bevor sie in Nupedia aufgenommen würden.

Doch was als Nebenprojekt begann, entwickelte sich explosionsartig: Innerhalb eines Monats entstanden 600 Wikipedia-Artikel, während Nupedia in drei Jahren nur 21 Artikel veröffentlicht hatte. Das revolutionäre Konzept – eine Enzyklopädie, die jeder bearbeiten kann – erwies sich als so erfolgreich, dass es das Ursprungsprojekt bald überflügelte und Nupedia 2003 eingestellt wurde.

Jimmy Wales und Larry Sanger werden offiziell als Gründer anerkannt, wobei ihre genauen Rollen unterschiedlich interpretiert werden. Während Wales oft als visionärer Gründer dargestellt wird, betont Sanger, der Wikipedia 2002 verließ, seinen eigenen konzeptionellen Beitrag. Diese verschiedenen Perspektiven spiegeln die komplexe Natur des Projekts wider.

Heute, nach über zwei Jahrzehnten, ist Wikipedia zu einem globalen Phänomen herangewachsen: Die englische Wikipedia umfasst inzwischen 6,97 Millionen Artikel mit einem Wachstum von 2,5% im Jahr 2024. Insgesamt existieren 338 aktive Sprachversionen mit zusammen 64,6 Millionen Artikeln.

Was Teil 2 bringt

In den kommenden Teilen dieser Serie werden wir tiefer in spezifische Aspekte der Wikipedia eintauchen – von den aktuellen Herausforderungen wie der alternden Community und der Sockenpuppen-Problematik bis hin zu den Kontroversen mit prominenten Kritikern wie Elon Musk. Wir werden auch genauer untersuchen, wie die Community mit Desinformation umgeht und welche Rolle Wikipedia in einer zunehmend von KI-Systemen geprägten Informationslandschaft spielen kann.

Welche Aspekte des "verborgenen Fundaments" von Wikipedia interessieren Sie besonders? Teilen Sie Ihre Gedanken in den Kommentaren mit.


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