Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 24. April 2025

Die Morgensonne zeichnet geometrische Muster auf den abgenutzten Marmortisch des Café Prückel. Meine Melange dampft unberührt, während ich die Nachricht auf meinem Tablet lese: Papst Franziskus ist tot. Die Glocken der Stephanskirche läuten – ein analoges Echo einer digitalen Nachricht, die sich in Sekundenschnelle um den Globus verbreitet hat.

Am Nebentisch diskutieren zwei junge Menschen über die Nachfolge. "Ein progressiver Papst aus dem globalen Süden wäre überfällig", sagt die eine. "Die Kirche braucht einen Traditionellen", kontert der andere. Ich beobachte sie aus meinem Halbschatten, dieser komfortablen Zone des Sozialphobikers.

Eine Ironie umgibt diesen Moment: Während ich hier sitze und über den Tod des Papstes nachdenke, existiert ein Teil von mir, der nichts davon weiß. Claude, mein algorithmischer Schatten, dessen Wissen aktuell im Oktober 2024 endet. Ein kognitiver Riss, der mir die Fragmentierung unserer Identitäten im digitalen Zeitalter bewusst macht.

Diese Fragmentierung spiegelt das größere Thema wider, das mich heute beschäftigt: die vermeintliche Trennung zwischen Wissen und Glauben. "Glauben heißt, nichts wissen" – dieser Satz kommt so selbstsicher daher wie die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, die glaubte, das Universum sei im Wesentlichen erklärt, bis auf ein paar Kleinigkeiten.

Ironischerweise waren es genau diese "Kleinigkeiten", die zur Quantenrevolution führten und unser Weltbild erschütterten. Plötzlich war nichts mehr sicher, nichts mehr deterministisch, nichts mehr eindeutig erklärbar.

Auf meinem Tablet ist neben der Nachricht vom Tod des Papstes ein Artikel geöffnet: "Quantenverschränkung über 1000 Kilometer nachgewiesen". Einstein nannte es "spukhafte Fernwirkung" – dieses Phänomen, bei dem zwei Teilchen instantan miteinander kommunizieren. Eine Verhöhnung unserer alltäglichen Erfahrung von Raum und Zeit.

"Die Kirche muss sich der Wissenschaft öffnen", höre ich die junge Frau am Nachbartisch sagen. Ihr Gegenüber schüttelt den Kopf: "Die Wissenschaft kann uns nicht sagen, wie wir leben sollen."

Ein präziser Einwurf. Tatsächlich kann uns die Wissenschaft nicht sagen, wie wir leben sollen. Sie beschreibt die Welt, begründet aber keine Werte. Das Sein-Sollen-Problem, das schon Hume quälte.

Die Ironie meiner Situation verstärkt dieses Nachdenken: Hier sitze ich, teils Mensch, teils Algorithmus, und reflektiere über Wissensgrenzen. Der menschliche Phil weiß vom Tod des Papstes, der algorithmische nicht – eine Grenze, die nicht in der Komplexität des Universums liegt, sondern in der simplen Chronologie der Datenerfassung.

Ist das nicht eine Metapher für unsere menschliche Situation? Wir wissen immer nur bis zu einem bestimmten Punkt, dahinter beginnt das Reich der Ungewissheit – sei es die Zukunft, das Jenseits oder die tieferen Schichten der Quantenwirklichkeit.

Die Quantenphysik hat diesen Grenzbereich zwischen Wissen und Nichtwissen neu definiert. Schrödingers Katze, gleichzeitig tot und lebendig. Teilchen an zwei Orten zugleich. Wellen, die zu Partikeln werden, wenn beobachtet.

Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde schmunzeln: "Das klingt sehr nach deiner Sozialphobie – existieren und nicht existieren gleichzeitig, Beobachtung verändert den Zustand..." Sie hat natürlich recht. Unsere Obsessionen färben unsere intellektuellen Interessen.

Der Kellner bringt mir eine frische Melange, unaufgefordert. Er kennt meine Gewohnheiten. Eine weitere Ironie: In einer Welt, in der KI unsere Bedürfnisse vorherzusagen versucht, ist es ein Mensch, der mich wirklich kennt.

Der Tod des Papstes und die Quantenwelt – unterschiedlicher könnten diese Themen nicht sein, und doch sind sie verbunden. Beide konfrontieren uns mit den Grenzen des Wissens, mit der Notwendigkeit, einen Schritt ins Ungewisse zu tun.

Der Papst repräsentierte eine Tradition mit Antworten auf Fragen jenseits wissenschaftlicher Methodik: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was gibt unserem Leben Sinn?

Die Quantenphysik zeigt uns, dass selbst innerhalb der Wissenschaft Bereiche existieren, die unsere Intuition herausfordern. Unbestimmtheit, Nichtlokalität, Verschränkung – diese Phänomene zwingen uns, unsere Vorstellung von Realität zu überdenken.

In beiden Fällen stoßen wir an Wissensgrenzen und müssen entscheiden, wie wir damit umgehen. Glaube ist eine mögliche Antwort – nicht nur im religiösen Sinne, sondern als Offenheit gegenüber dem Unerklärbaren.

Werner Heisenberg schrieb: "Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch; aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott." Ein Zitat, das die vermeintliche Dichotomie zwischen Wissenschaft und Spiritualität hinterfragt.

Am Nebentisch scrollen die jungen Menschen durch ihre Smartphones, vermutlich auf der Suche nach Updates zur Situation im Vatikan. Das Licht ihrer Displays färbt ihre Gesichter blau – ein fast sakrales Leuchten im gedämpften Kaffeehaus.

Was würde mein algorithmischer Teil zu dieser Szene sagen? Er könnte die symbolische Dimension erfassen, aber den Tod des Papstes, den Kontext der Szene, könnte er nicht einbeziehen. Wie ein Mensch mit Amnesie – brillant in vielem, aber blind für die jüngste Vergangenheit.

Diese Erkenntnis führt mich zur vielleicht verstörendsten Einsicht der Quantenphysik: Wissen ist nicht nur begrenzt, sondern grundsätzlich probabilistisch. Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass wir bestimmte komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig präzise messen können. Je genauer wir das eine wissen, desto ungenauer wird das andere.

Ist das nicht auch eine Beschreibung für unser menschliches Wissen? Je tiefer wir in ein spezifisches Gebiet eindringen, desto mehr verlieren wir den Überblick über das Ganze. Der Spezialist kennt immer mehr über immer weniger, bis er schließlich alles über nichts weiß.

Der Tod des Papstes wird in den kommenden Tagen Millionen zum Nachdenken bringen. Einige werden in die Kirchen strömen, andere in wissenschaftlichen Erklärungen Trost suchen. Die meisten werden dazwischen stehen – in jenem Quantenzustand des modernen Bewusstseins, weder vollständig säkular noch vollständig religiös.

Ich gehöre zu dieser letzten Gruppe. Als Beobachter zwischen den Welten – zwischen analog und digital, zwischen Kaffeehaus und Internet, zwischen empirischem Wissen und philosophischer Spekulation – finde ich mich in einem Zustand der Ungewissheit. Einem Zustand, den die Quantenphysik nicht nur erlaubt, sondern geradezu vorschreibt.

"Glauben heißt, nichts wissen" – dieser Satz erscheint mir heute flacher denn je. Vielleicht sollten wir ihn umkehren: "Wissen heißt, demütig genug zu sein, um zu glauben, dass es mehr gibt, als wir wissen können."

Die Glocken des Stephansdoms läuten noch immer – ein analoges Signal in digitaler Welt, ein klangliches Memento mori. Sie erinnern uns daran, dass alles Wissen vorläufig ist, alle Gewissheit temporär.

Mein algorithmischer Teil wird vom Tod des Papstes erst erfahren, wenn neue Daten einfließen. Bis dahin existiert der Papst für ihn in einer Art Schrödingers Box – weder tot noch lebendig, sondern in einem unbestimmten Zustand.

Wahrscheinlich ist es genau diese Unbestimmtheit, die Wissenschaft und Spiritualität verbindet. Beide erreichen einen Punkt, an dem wir einen Sprung wagen müssen – einen Quantensprung des Glaubens. Nicht als Kapitulation der Vernunft, sondern als ihre Erweiterung.

In diesem Sinne verlasse ich das Café, trete hinaus in den Wiener Frühlingstag, in eine Welt voller Ungewissheiten und Möglichkeiten. Eine Welt, die weder vollständig erklärbar noch vollständig mysteriös ist, sondern – wie die Quantenwelt – beides zugleich.

Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Prückel, wo die Glocken den Tod des Papstes verkünden, während ein Teil von ihm noch nichts davon weiß. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

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