Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 8. Mai 2025

In der samtenen Stille des Café Prückel beobachte ich zwei junge Digital-Strategen, die über ihre Erlebnisse beim OMR Festival in Hamburg diskutieren. Ihre Augen leuchten, wenn sie von "revolutionären Konzepten" und "bahnbrechenden Strategien" sprechen. Ich nippe an meiner Melange und kann nicht umhin, eine gewisse Ironie zu bemerken: Sie sprechen über Marketing, als wäre es eine separate Dimension unserer Existenz, ein Spezialgebiet für Eingeweihte – dabei ist Marketing im Grunde das Leben selbst.

Marketing ist keine Erfindung cleverer Werbestrategen. Es ist die älteste menschliche Aktivität nach dem bloßen Überleben. Immer wenn du von jemandem etwas willst – sei es Aufmerksamkeit, Zuneigung, Hilfe oder Ressourcen – betreibst du Marketing. Das Kind, das seine Mutter mit großen Augen anschaut, um ein Eis zu bekommen; der Bewerber, der seinen Lebenslauf optimiert; der Stammgast, der dem Kellner ein Lächeln schenkt – all das ist Marketing in seiner reinsten Form. Marketing ist das Betriebssystem unseres Lebens. Es bestimmt, wie wir Dinge sehen, wie wir über uns sprechen, wie wir uns inszenieren – selbst dann, wenn wir glauben, gar nichts verkaufen zu wollen.

Als diagnostizierter Sozialphobiker mag diese Erkenntnis besonders schmerzhaft sein: Selbst mein Rückzug aus sozialen Interaktionen ist eine Form von Anti-Marketing, eine Botschaft an die Welt, die sorgfältig gestaltet ist.

Was mich am OMR Festival und ähnlichen Veranstaltungen stört, ist nicht Marketing an sich. Es ist die seltsame Echokammer, die entsteht, wenn Marketing nur noch mit sich selbst spricht. Ein selbstreferenzielles System, das sich immer weiter von der Lebensrealität entfernt, die es eigentlich abbilden und beeinflussen will.

Die Digital-Branche hat Marketing von seinen menschlichen Wurzeln getrennt und in ein Labyrinth aus Daten, Algorithmen und Metriken verwandelt. Doch während wir über Conversion Rates und Engagement Metrics diskutieren, vergessen wir oft, dass am anderen Ende echte Menschen sitzen – keine Datenpunkte, sondern komplexe Wesen mit Hoffnungen, Ängsten und Bedürfnissen.

Werbung – die sichtbarste Form des Marketings – hat einen besonders schweren Stand. "Werbung ohne Ethos ist wie Journalismus ohne Ethos", murmle ich in meinen Kaffee, während die beiden am Nebentisch über "performance-orientierte Creatives" diskutieren. Die Trennung zwischen Information und Überzeugung, zwischen Aufklärung und Manipulation ist seit der Erfindung des Internets zunehmend verschwommen. Die Folgen erleben wir täglich: Polarisierung, Radikalisierung, eine kollektive Abstumpfung gegenüber Fakten und Nuancen.

Hier liegt das eigentliche Problem: Nicht Marketing per se ist problematisch, sondern ein Marketing, das seine ethische Grundlage verloren hat. Ein Marketing, das nicht mehr darauf ausgerichtet ist, echte Bedürfnisse zu erfüllen, sondern künstliche zu schaffen. Ein Marketing, das nicht verbindet, sondern trennt; das nicht informiert, sondern verwirrt; das nicht bereichert, sondern ausbeutet.

Die jungen Strategen am Nebentisch packen ihre Laptops ein. Sie werden zurückkehren in ihre Agenturen, bewaffnet mit neuen Buzzwords und Taktiken, aber haben sie wirklich verstanden, worum es bei Marketing geht? Haben sie begriffen, dass die effektivste Marketingstrategie immer noch die einfachste ist: authentisch sein, echten Wert bieten, menschliche Verbindungen schaffen?

Apple hat das lange Zeit verstanden. Ihre Events waren lange Zeit nicht deshalb magisch, weil sie spektakuläre Shows boten oder raffinierte Manipulationstechniken einsetzten. Sie waren magisch, weil sie echte Innovationen präsentierten, die unser Leben tatsächlich veränderten.

Als digitaler Kaffeehausphilosoph sehe ich meine Aufgabe darin, diese Verbindung zwischen Marketing und Leben wieder herzustellen, die ethische Dimension wieder ins Zentrum zu rücken. In einer Zeit, in der Aufmerksamkeit zur knappsten Ressource geworden ist, müssen wir uns fragen: Welche Art von Marketing wollen wir in die Welt setzen? Eines, das zur Polarisierung beiträgt, oder eines, das Brücken baut? Eines, das verdummt, oder eines, das erleuchtet?

Die Antwort beginnt nicht auf Marketingfestivals, sondern hier, im Café Prückel, in der stillen Beobachtung menschlicher Interaktionen, im Verständnis dessen, was uns wirklich bewegt, verbindet und inspiriert.

Phil Roosen ist Präsident des Vereins Pura Vida und Stammgast im Café Prückel. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

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