Kolumne "Digitale Zwischenräume" von Phil Roosen, Emergent - The Digioneer, Donnerstag, 27. März 2025

Die Morgensonne fällt durch die hohen Fenster des Café Prückel und zeichnet geometrische Muster auf den abgenutzten Marmortisch vor mir. Meine Melange dampft verheißungsvoll, während ich die Nachricht über einen bemerkenswerten medialen Machtkampf studiere: Ein Chefredakteur einer Stadtzeitung hat es möglicherweise geschafft, eine im Fernsehen ausgestrahlte Reality-Show zu kippen – nicht etwa durch einen kritischen Artikel in seinem Medium, sondern durch persönliche Äußerungen auf seinen Social-Media-Profilen, die von Politikern und TV-Anstalt Verantwortlichen aufgegriffen wurden. Ein faszinierender Fall von Medienmacht jenseits traditioneller Kanäle, der mich nachdenklich stimmt.

In einer Zeit, in der wir täglich über die Allmacht von Algorithmen und die Omnipräsenz von Influencern lamentieren, erinnert uns dieser Vorfall an eine komplexere Wahrheit: Die Grenzen zwischen traditionellen Medien und sozialen Netzwerken verschwimmen zusehends. Der Chefredakteur nutzte nicht die Druckerschwärze seiner Zeitung, sondern die Reichweite seiner persönlichen Profile – und demonstrierte damit eine hybride Form der Medienmacht. Als "vierte Gewalt" im Staat – ein Begriff, den der konservative Edmund Burke prägte, nicht etwa ein linker Revolutionär – waren Medienvertreter stets Gatekeeper der öffentlichen Meinung. Doch heute sind die Tore vielfältiger geworden, und die Schlüssel dazu hängen an unterschiedlichen Gürteln.

Ist das nicht genau das, wofür wir sie schätzen sollten? Dass sie diese Rolle als Gatekeeper wahrnehmen?

Mein Tischnachbar – einer dieser ewig in Videokonferenzen verstrickten Digitalarbeiter – justiert gerade seine Kopfhörer. "Also ich finde gut, was der Redakteur gemacht hat", höre ich ihn in sein unsichtbares Mikrofon sagen. "Endlich mal jemand, der durchgreift." Ein Satz, der mich innerlich zusammenzucken lässt. Denn so einfach ist es nicht.

Als diagnostizierter Sozialphobiker beobachte ich menschliche Machtverhältnisse meist aus sicherer Distanz. Und gerade aus dieser Distanz wird deutlich: Medienmacht ist nicht per se gut oder schlecht. Es kommt, wie so oft, auf die Intention, die Methode und den Kontext an. Der gleiche Mechanismus, der heute eine fragwürdige Reality-Show stoppt, kann morgen kritischen Journalismus unterdrücken oder unbequeme Stimmen zum Schweigen bringen.

Die alten Medienstrukturen hatten immerhin eines: Regeln. Redaktionsstatute, Ethikrichtlinien, den Pressekodex. "Check, Recheck, Double Check" – dieses Mantra wurde uns angehenden Journalisten (bevor ich an der Lateinprüfung scheiterte und mein Studium abbrach) eingebläut. Jede Geschichte musste mehrfach verifiziert werden, bevor sie in Druck ging.

Wo sind diese Regeln heute? Der Influencer, der morgens noch Zahnpasta bewirbt und nachmittags komplexe politische Meinungen in die Welt posaunt, durchläuft kein Faktenchecking, keine redaktionelle Kontrolle. Seine Reichweite verdankt er oft dem Zufall algorithmischer Verstärkung, nicht journalistischer Sorgfalt oder Expertise.

Die Ironie dabei: Während wir die Macht traditioneller Medien kritisch hinterfragen – zu Recht übrigens –, akzeptieren wir die neue Medienmacht der Influencer erstaunlich unkritisch. Wir misstrauen dem Chefredakteur, der eine Reality-Show kippt, aber wir vertrauen dem TikToker, der uns erklärt, wie die Welt funktioniert.

Mit jedem Schluck meiner mittlerweile lauwarmen Melange wird mir klarer: Wir befinden uns in einer merkwürdigen Zwischenphase der Medienevolution. Die alten Strukturen bröckeln, aber die neuen haben noch keine verlässlichen Regeln entwickelt. Es ist, als würden wir ein altes Haus abreißen, bevor wir die Pläne für das neue fertiggestellt haben.

Am Nebentisch blättert ein älterer Herr methodisch durch die gedruckte Ausgabe des "Standard" – ein fast anachronistischer Anblick in Zeiten, in denen die meisten Nachrichten am Smartphone konsumiert werden. Es liegt eine gewisse Würde in dieser Szene, eine Anerkennung des kuratierten Journalismus. Jeder Artikel in dieser Zeitung durchlief einen redaktionellen Prozess, wurde von mehreren Augen gesehen, von mehreren Köpfen durchdacht.

Und doch – dieser kuratierte Journalismus ist nicht ohne Probleme. Die Gatekeeper-Funktion kann zur Echokammer werden, wenn die Redaktion zu homogen besetzt ist. Die redaktionelle Linie kann zur Scheuklappen-Sicht verkommen, wenn kritische Stimmen fehlen. Die vielgepriesene journalistische Objektivität war oft nur ein anderes Wort für die Perspektive der gesellschaftlichen Mehrheit.

Die sozialen Medien haben diese Probleme erkannt und die Tore weit aufgestoßen. Plötzlich konnte jeder publizieren, ohne redaktionelle Filter. Eine demokratische Revolution der Meinungsäußerung – so das Versprechen. Die Realität sieht komplizierter aus. Statt redaktioneller Filter haben wir nun algorithmische Selektionen. Statt kuratierter Inhalte haben wir Aufmerksamkeitsökonomie. Statt informierter Gatekeeper haben wir oft zufällige Influencer mit moralischem Kompass von ungewisser Verlässlichkeit.

Wo ist das Reglement für diese neuen Meinungsmacher? Wo sind die Ethikrichtlinien für Influencer, die Millionen erreichen? Wo ist das "Check, Recheck, Double Check" in einer Welt, in der die Geschwindigkeit des Postens oft wichtiger ist als die Sorgfalt der Recherche?

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Die Kellnerin bringt mir eine frischen Melange – den dritten heute, meine Frau würde die Augen verdrehen. "Die vierte Macht braucht die dritte Tasse", scherze ich unbeholfen. Sie lächelt höflich, ohne zu verstehen. Wahrscheinlich ist es genau das, was unserer Medienlandschaft fehlt: Echtes Verstehen statt höflichen Lächelns.

Wenn heute jedes Individuum eine eigene mediale Plattform, eine eigene Stimme haben kann – wohin führt das unsere Gesellschaft? Zu mehr Pluralismus oder zu mehr Polarisierung? Zu informierteren Bürgern oder zu überforderten Konsumenten? Die Antworten sind nicht eindeutig, und vermutlich liegt gerade darin das Problem: Wir suchen Eindeutigkeit in einer Welt voller Schattierungen.

Ich habe keine endgültige Antwort auf die Frage, wie wir mit der neuen und der alten Medienmacht umgehen sollen. Aber ich mahne alle, die in der Öffentlichkeit stehen – sei es als Journalist einer Stadtzeitung oder als Influencer mit einer Community, die größer ist als der eigene Freundeskreis: Seid vorsichtig. Seid reflektiert. Hört eurem Umfeld zu und reflektiert noch einmal.

Der neue Maßstab kann wahrscheinlich nur sein: Zuhören, noch einmal zuhören, doppelt zuhören. Eine zeitgemäße Adaption des alten Journalistenmantras: Check, Recheck, Double Check.

Draußen zieht der Himmel seine graue Decke über Wien. Ein diffuses Licht fällt auf die Ringstraße, lässt Konturen verschwimmen, schafft Zwischentöne statt klarer Abgrenzungen. Wie passend für unser Thema – auch unsere mediale Welt existiert heute vor allem in solchen Grauschattierungen, fernab von Schwarz und Weiß. Perfekte Transparenz gibt es nicht, weder im Journalismus noch bei Influencern. Aber das Bewusstsein für diese Verzerrungen, das können wir kultivieren. Und das kann der erste Schritt zu einem mündigen Umgang mit Medien jeder Art sein.

Phil Roosen ist Emergent, Präsident des Vereins Pura Vida und Stammgast im Café Prückel. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

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