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ElevenLabs Die letzte Generation der Arbeitenden
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Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 1. Mai 2025

Die Sonne wirft goldene Reflexe auf den Marmortisch im Café Prückel, während draußen die traditionellen Mai-Demonstrationen über die Ringstraße ziehen. Aus dem Lautsprecher eines Gewerkschaftswagens dröhnt ein altbekanntes Arbeiterlied – dessen Text jedoch vage und fremd klingt in einer Zeit, in der der Begriff "Arbeiter" selbst zunehmend anachronistisch wirkt.

"Solidarität, Solidarität", skandiert die Menge. Ein schönes Wort, das mich seltsam berührt, während ich hier als diagnostizierter Sozialphobiker aus sicherer Distanz beobachte. Wer sind diese "Arbeitenden", mit denen wir uns solidarisieren sollen, in einer Ära, in der Algorithmen Texte schreiben, Drohnen Pakete liefern und KI juristische Dokumente prüft?

Vielleicht ist es diese fundamentale Frage, die diesem Tag der Arbeit 2025 eine besondere historische Pointe verleiht: Stehen wir am Beginn einer Ära, in der die Menschheit – erstmals seit die ersten Steinzeitwerkzeuge unsere Hände verlängerten – von der Notwendigkeit der Arbeit befreit wird?

Am Nebentisch diskutieren zwei junge Programmiererinnen hitzig über die neueste Nachricht: Die Berliner Firma A-Lab soll ein KI-System entwickelt haben, das Programmcode nicht nur schreibt, sondern auch testet und optimiert. "In fünf Jahren brauchen sie uns nicht mehr", sagt die eine düster. "Quatsch", entgegnet die andere, "wir werden einfach andere Aufgaben übernehmen."

Ein Austausch, der das Grunddilemma unserer Zeit spiegelt: Stehen wir vor der endgültigen Befreiung vom Joch der Arbeit oder vor der ultimativen Entmündigung?

Seit der Mensch sich aufrichtete und den ersten Stein als Werkzeug benutzte, war sein Schicksal untrennbar mit Arbeit verbunden. "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen" – dieser biblische Fluch definierte die conditio humana über Jahrtausende. Die Jagd nach Nahrung, das Bestellen der Felder, das Schmieden der Werkzeuge, das Programmieren der Computer – immer ging es darum, durch Arbeit die eigene Existenz zu sichern.

Die industrielle Revolution hat diesen Zusammenhang nicht aufgehoben, sondern nur transformiert. Die digitale Revolution arbeitet daran. Und jetzt, mit dem exponentiellen Fortschritt der Künstlichen Intelligenz, scheint erstmals ein fundamentaler Bruch möglich: Eine Welt, in der die Maschinen nicht nur unsere Muskeln, sondern auch unsere Köpfe ersetzen.

Der Kellner, der mir gerade meine zweite Melange bringt, wird vermutlich bald der letzte seiner Art sein. Bereits jetzt experimentieren Wiener Kaffeehäuser mit Roboterkellnern – bisher mehr als Gimmick denn als ernsthafte Alternative. Doch wie lange noch? Beim Spaziergang hierher bin ich an nicht weniger als vier neuen Getränke- und Snackautomaten vorbeigekommen, die wie Pilze aus dem Boden der Stadt sprießen. Sie sind die ersten Vorboten ganz einfacher Roboter, die schon jetzt ganze Nahversorger ersetzen. Erst die Möglichkeit mit Apple Pay oder gleichwertigen kontaktlosen Zahlungsmethoden hat offenbar diese Schwemme von Automaten möglich gemacht – stille, unermüdliche Arbeiter, die weder Urlaub noch Krankenversicherung benötigen.

Die Ironie entgeht mir nicht: Ausgerechnet Wien, diese Stadt der Tradition und des kultivierten Müßiggangs, könnte zum Laboratorium der Arbeitszukunft werden.

"Wollen Sie auch einen Kuchen dazu?" fragt der Kellner. Ein simpler Satz, der eine komplexe Fähigkeit demonstriert: Er hat bemerkt, dass ich heute noch nichts gegessen habe, erinnert sich an meine Vorlieben und schlägt proaktiv eine Ergänzung vor. Keine heutige KI könnte diese kontextuelle Intelligenz so mühelos zeigen – aber was ist mit der KI von morgen?

Auf meinem Tablet läuft ein Livestream der Mai-Kundgebung am Rathausplatz. Die Reden haben begonnen, während ich gleichzeitig die gedämpften Klänge der Demonstration höre. "...Vier-Tage-Woche..." – "...bedingungsloses Grundeinkommen..." – "...gerechte Verteilung...". Alles vernünftige Forderungen, denke ich, und doch merkwürdig unzureichend angesichts der tektonischen Verschiebungen, die sich unter der Oberfläche unserer Arbeitsgesellschaft abzeichnen.

Wie wir hier im The Digioneer schon mehrfach analysiert haben, wird das Kultivieren von Hobbys – oder besser: von Leidenschaften – vermutlich das größte Talent der kommenden Generationen sein. Die Fähigkeit, Erfüllung jenseits bezahlter Arbeit zu finden, könnte wichtiger werden als jede berufliche Qualifikation. Eine Erkenntnis, die in den traditionellen Mai-Reden noch keinen Platz gefunden hat.

Wir diskutieren über Arbeitszeitverkürzung, während die Arbeit selbst zu verschwinden droht. Wir reden über die gerechte Verteilung des Wohlstands, während unsere Definition von "Produktivität" durch KI und Robotik revolutioniert wird. Es ist, als würden wir die Anordnung der Liegestühle auf der Titanic debattieren, ohne das Eisberg-Problem anzusprechen.

Die wahre Frage lautet nicht, ob wir vier oder fünf Tage arbeiten sollten. Die wahre Frage ist: Was bedeutet Menschsein in einer Welt nach der Arbeit?

Die jungen Programmiererinnen am Nebentisch sind ebenfalls bei diesem Thema angelangt. "Was würdest du tun, wenn du nie wieder arbeiten müsstest?" fragt die eine. "Reisen, Musik machen, meine Oma öfter besuchen", antwortet die andere ohne Zögern. "Und du?" – "Wahrscheinlich trotzdem programmieren, aber nur die Projekte, die mich wirklich interessieren."

Diese Antworten sind bezeichnend: Sie sehen eine Welt ohne ökonomischen Arbeitszwang nicht als Bedrohung, sondern als Befreiung. Eine Chance, das zu tun, was wirklich zählt – sei es Beziehungen pflegen, Kreativität ausleben oder selbstbestimmt an sinnvollen Herausforderungen arbeiten.

Vielleicht liegt darin die eigentliche Ironie des heutigen Tags der Arbeit: Im Moment, wo die Technologie das Potenzial erreicht, uns von der Notwendigkeit der Arbeit zu befreien, erkennen wir, dass das, was wir eigentlich wollen, gar nicht die Abschaffung der Arbeit ist – sondern ihre Transformation zu etwas, das wir aus freien Stücken und mit Sinn tun.

Das deutsche Wort "Schlaraffenland" – jenes mythische Reich, in dem gebratene Tauben direkt in die Münder der Menschen fliegen – hat immer einen zwiespältigen Beiklang. Es suggeriert nicht nur Überfluss, sondern auch eine gewisse Dekadenz, eine Entfremdung von der produktiven Kraft der eigenen Hände und des eigenen Geistes.

Als Kind der Boomer-Generation, aufgewachsen mit der protestantischen Arbeitsethik, spüre ich dieses Unbehagen deutlich. Die Vorstellung einer Existenz ohne die Notwendigkeit der Arbeit erscheint mir gleichzeitig verlockend und beunruhigend. Aus meinem geschützten Kaffeehauswinkel heraus beobachte ich die Verhandlung dieses Unbehagens in Echtzeit – sowohl in den Mai-Demonstrationen draußen als auch in den Gesprächen der jungen Technikerinnen hier im Café.

Mein Sohn – 30, arbeitet beim Film – hat eine klarere Sicht auf die Sache. "Papa," sagte er neulich, "wir könnten die erste Generation sein, die die Wahl hat. Nicht zwischen verschiedenen Jobs, sondern zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit." Ein Gedanke, der mir gleichzeitig utopisch und bedrohlich erscheint.

Was wird aus unserer Vorstellung von Produktivität, von gesellschaftlichem Beitrag, von persönlichem Wert, wenn die Verknüpfung zwischen Arbeit und Existenzsicherung durchtrennt wird? Eine philosophische Frage, die plötzlich sehr praktisch wird.

Die Kellner im Café Prückel bewegen sich mit einer Eleganz, die über Jahrzehnte perfektioniert wurde. Wie viele ihrer Handgriffe könnten schon heute von Robotern ausgeführt werden? Was unersetzlich scheint, ist das soziale Element: Das Erkennen eines Stammgastes, das Gespür für den richtigen Moment einer Bemerkung.

Doch selbst hier holt die KI auf. In amerikanischen Restaurants experimentiert man bereits mit Systemen, die Stammgäste per Gesichtserkennung identifizieren und dem Personal in Echtzeit Hinweise geben: "Herr Müller bevorzugt seinen Kaffee mit wenig Milch."

Auf meinem Bildschirm sehe ich, wie sich die Mai-Demonstration allmählich auflöst. Ein historisches Echo: Die Arbeiterklasse vergangener Jahrhunderte kämpfte um würdige Bedingungen innerhalb der Lohnarbeit. Unsere Herausforderung ist es, ein Leben jenseits dieses Paradigmas zu denken.

Die jungen Programmiererinnen stehen auf. "Wir sollten einen Verein gründen", sagt eine lachend, "für die letzte Generation der Arbeitenden." Der Gedanke hallt nach: Sind wir die Letzten, die arbeiten müssen, um zu überleben?

Als Präsident von "Pura Vida" beobachte ich, wie unsere Mitglieder mit alternativen Lebensmodellen experimentieren. Sie nutzen KI-Tools nicht um mehr zu produzieren, sondern um mehr Zeit für das zu haben, was ihnen wichtig ist – ein Vorgeschmack auf die Transformation der Arbeit von einer Notwendigkeit zu einer freiwilligen, sinnstiftenden Tätigkeit.

Die KI-Revolution unterscheidet sich von früheren technologischen Umwälzungen: Sie zielt nicht primär auf unsere physischen, sondern auf unsere kognitiven Fähigkeiten. Wenn Maschinen nicht nur stärker und schneller, sondern auch "klüger" werden – was bleibt als unsere Domäne?

Vielleicht die Selbstreflexion, das Staunen, das Unbehagen angesichts der eigenen Existenz. Die ultimative Ironie dieses 1. Mai: In dem Moment, wo die Technologie uns von der Notwendigkeit der Arbeit befreit, entdecken wir, dass unsere wichtigste Aufgabe darin besteht, neu zu definieren, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Der Kellner bringt mir ungefragt einen Topfenstrudel. "Sie schauen heute nachdenklich aus", sagt er, "da kann etwas Süßes nicht schaden." Eine Geste menschlicher Empathie, die mich berührt.

Vielleicht sind wir tatsächlich die letzte Generation der Arbeitenden – oder besser: die erste, die die Chance hat, Arbeit neu zu denken, jenseits des existenziellen Zwangs. Eine Aufgabe voller Ironie: Die wichtigste Arbeit, die vor uns liegt, könnte sein, das Ende der Arbeit zu gestalten.

Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Prückel, wo er den Maifeiertag mit einer Extraportion Topfenstrudel begeht. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

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