
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 10. April 2025
Der Melange vor mir dampft noch, während ich die Nachricht auf meinem Tablet lese: "Online-Magazin tag eins stellt Ende April seine Tätigkeit ein." Ein weiteres Medien-Startup, das nach Jahren des Ringens um wirtschaftliche Tragfähigkeit aufgeben muss. Die Gründe? Die üblichen Verdächtigen: zu wenige zahlende Leserinnen und Leser, zu geringe Förderungen, zu viel Konkurrenz durch werbefinanzierte Gratismedien.
Am Nebentisch blättert ein Herr mittleren Alters methodisch durch den "Kurier", während er gleichzeitig auf seinem Smartphone durch einen News-Feed scrollt. Eine Szene von wunderbar paradoxer Qualität: Er bezahlt für die gedruckte Zeitung in seiner Hand, während er kostenlose Inhalte auf seinem Telefon konsumiert – oft von denselben Verlagen produziert. Diese Gleichzeitigkeit von Bezahl- und Gratiskonsum spiegelt perfekt die Schizophrenie einer Branche wider, die seit über zwei Jahrzehnten verzweifelt versucht, ihre eigene Existenzform neu zu definieren.
Als diagnostizierter Sozialphobiker beobachte ich solche Szenen aus sicherer Distanz. Meine Zurückhaltung ermöglicht mir jene Vogelperspektive, die für die Analyse komplexer gesellschaftlicher Phänomene so wertvoll ist. Und komplex ist die Situation des Journalismus wahrlich: Während die gesamte Medienlandschaft von der digitalen Transformation umgepflügt wird, halten wir an Fördermodellen fest, die aus dem letzten Jahrhundert stammen.
Die österreichische Presseförderung, die primär nach Auflage ausgeschüttet wird, ist ein Paradebeispiel für diese anachronistische Denkweise. Sie zementiert bestehende Machtverhältnisse und lässt innovative Formate im Regen stehen. Man fördert, was bereits existiert – nicht, was entstehen könnte. Es ist, als würde man bei der Wiener Stadtplanung ausschließlich in die Restaurierung barocker Palais investieren, während die zeitgenössische Architektur ohne Unterstützung auskommen muss. Eine kurzsichtige Politik, die der Vielfalt und Innovation schadet.
Die Kellnerin bringt mir unaufgefordert einen zweiten Melange. Sie kennt meine Gewohnheiten – ein Luxus der Stammkundschaft, den kein Algorithmus je ersetzen kann. Während ich den ersten Schluck nehme, schweift mein Blick zu einem jungen Paar zwei Tische weiter. Sie diskutieren angeregt, und ich erhasche Fetzen ihrer Unterhaltung: "...aber warum sollte ich für etwas bezahlen, das ich woanders kostenlos bekomme?"
Diese Frage – so simpel sie klingt – enthält den Kern unseres Problems. Sie offenbart eine fundamentale Wahrnehmungsverschiebung: Wir haben den Journalismus zu einer Ware degradiert, die man vergleichen kann wie Waschmittel oder Zahnpasta. Aber ist die Berichterstattung über unsere Gesellschaft, sind kritische Analysen und tiefgründige Recherchen tatsächlich austauschbare Produkte?
Die Ironie dabei: Während wir täglich für Kaffee, Streaming-Dienste oder das neueste Smartphone-Modell bezahlen, erscheint uns der Gedanke, für Qualitätsjournalismus Geld auszugeben, zunehmend absurd. Fünf Euro für einen Café Latte mit Hafermilch? Natürlich! Fünf Euro monatlich für fundierte Berichterstattung, die unsere Demokratie stützt? "Warum sollte ich dafür bezahlen?"
Mein Blick wandert zum Fenster hinaus auf die Ringstraße. Eine Straßenbahn gleitet vorbei – finanziert durch öffentliche Gelder und Fahrscheine. Niemand käme auf die Idee, die Wiener Linien ausschließlich durch Werbeflächen an den Waggons zu finanzieren. Warum akzeptieren wir dann, dass unabhängiger Journalismus primär durch Werbung existieren soll?
Die Abhängigkeit von Werbegeldern ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern vor allem ein demokratisches. Wer von Anzeigenkunden abhängig ist, kann nicht vollständig frei berichten. Diese Erkenntnis ist so alt wie der Journalismus selbst, und doch tun wir oft so, als wäre sie eine revolutionäre Einsicht. Die Gefahr liegt nicht nur in der direkten Einflussnahme – die gibt es durchaus –, sondern in der subtilen Selbstzensur: Was nicht berichtet wird, weil man den Anzeigenkunden nicht verärgern möchte. Was nicht recherchiert wird, weil es die falschen Kreise stören könnte.
Nicht weniger problematisch ist die Abhängigkeit von staatlichen Inseraten – ein spezifisch österreichisches Phänomen, das in seiner Ausprägung international seinesgleichen sucht. Wenn Ministerien und öffentliche Unternehmen zu den größten Werbekunden zählen, entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das kritischem Journalismus diametral entgegensteht.
Der Herr mit der Zeitung ist inzwischen fertig mit seiner Lektüre. Er faltet den "Kurier" sorgfältig zusammen, legt ihn auf den Tisch und verlässt das Café – sein Smartphone fest in der Hand. Zurück bleibt ein Stück Papier, das vermutlich mehr gekostet hat, als die meisten Menschen bereit wären, für ein digitales Abonnement zu bezahlen.
Gibt es Auswege aus diesem Dilemma? Die erwähnten Beispiele Krautreporter, Republik und Zetland machen Hoffnung. Sie zeigen, dass ein leserfinanziertes Modell funktionieren kann – wenn drei wesentliche Bedingungen erfüllt sind:
Erstens: Exzellenter, unverwechselbarer Journalismus. Keine Agenturmeldungen, keine Pressemitteilungen in leicht umformulierter Form, sondern eigenständige Recherchen, tiefe Analysen, Geschichten, die man nirgendwo sonst findet.
Zweitens: Eine echte Beziehung zu den Leserinnen und Lesern. Nicht als anonyme Masse von "Usern", sondern als Community, als Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamen Interessen und Werten.
Drittens: Radikale Transparenz über die eigene Arbeit, die eigenen Finanzstrukturen, die eigenen Fehler. Vertrauen entsteht nicht durch Perfektion, sondern durch Ehrlichkeit.
Was diese Medien auch verbindet: Sie verstehen sich nicht primär als Unternehmen, die zufällig Journalismus produzieren, sondern als journalistische Entitäten, die wirtschaftlich arbeiten müssen. Ein feiner, aber entscheidender Unterschied.
Die echte Herausforderung für Projekte wie unseren "Digioneer" liegt darin, diesen Dreiklang aus Exzellenz, Gemeinschaft und Transparenz in der täglichen Arbeit umzusetzen. Es ist leicht, über die Misere des Journalismus zu lamentieren – es ist ungleich schwerer, tragfähige Alternativen zu entwickeln und zu leben.
Vielleicht müssen wir den Mut haben, radikaler zu denken. Vielleicht brauchen wir eine völlig neue Definition dessen, was ein Medium im 21. Jahrhundert sein kann. Nicht mehr die zentrale Instanz, die Informationen filtert und verteilt, sondern ein Knotenpunkt in einem Netzwerk aus Expertise, Erfahrung und Engagement. Nicht mehr der allwissende Gatekeeper, sondern der bescheidene Dialogpartner. Nicht mehr der distanzierte Beobachter, sondern der engagierte Teilnehmer.
Die Uhr am Stephansdom schlägt drei, ihr Klang dringt gedämpft durch die Fenster des Café Prückel. Die Gäste um mich herum sind in ihre digitalen Geräte vertieft, Bildschirme als Fenster in virtuelle Welten, während die reale Welt um sie herum verblasst. Eine Szene, die unsere Zeit perfekt einfängt: In unserer ständigen Verbundenheit mit dem Digitalen verlieren wir oft den Kontakt zur unmittelbaren Umgebung.
Qualitätsjournalismus ist wie ein gutes Navigationsgerät – man bemerkt seinen Wert erst, wenn man ohne ihn in unbekanntem Terrain unterwegs ist. Und wie bei Navigation gilt auch hier: Die billigste Option ist selten die zuverlässigste. Wer für Journalismus nicht bezahlt, bezahlt dennoch – mit seiner Aufmerksamkeit, seinen Daten, und letztlich mit der Qualität der öffentlichen Debatte.
Mein zweiter Melange ist inzwischen kalt geworden. Ich bezahle – ohne zu zögern, denn guter Kaffee hat seinen Preis. Genau wie guter Journalismus.
Phil Roosen ist Emergent, Präsident des Vereins Pura Vida und Stammgast im Café Prückel. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.