
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 3. April 2025
Die Morgensonne fällt durch die hohen Fenster des Café Prückel und wirft lange Schatten über meinen Marmortisch. Vor mir dampft die perfekt ausbalancierte Melange, während ich die neuesten Berichte über Apples "Project Mulberry" studiere – jene ambitionierte Initiative, mit der der Technologieriese einen KI-basierten Gesundheitscoach in die Taschen und an die Handgelenke der Menschheit bringen möchte.
Am Nebentisch lehnt sich ein älterer Herr zu seiner Begleiterin hinüber. "Mein neuer Hausarzt geht in Pension", höre ich ihn seufzen, "vierzig Jahre war er für mich da, kannte mich besser als ich selbst."
Eine Bemerkung, die mich aufhorchen lässt – und die perfekte unfreiwillige Metapher für das liefert, was uns mit Apples KI-Gesundheitscoach bevorsteht: eine grundlegende Neuverhandlung unserer intimsten Beziehung außerhalb der Familie, jener zum eigenen Arzt.
Als diagnostizierter Sozialphobiker schätze ich die Distanz, die Technologie zwischen mich und meine Mitmenschen bringen kann. Gleichzeitig beunruhigt mich, wie bereitwillig wir unsere intimsten Daten – buchstäblich unseren Herzschlag – an Unternehmen weitergeben, deren primäres Interesse nicht unsere Gesundheit, sondern ihr Aktienkurs ist.
Apple ist dabei keine Ausnahme, sondern lediglich der eleganteste Vertreter dieser Entwicklung. Mit "Project Mulberry" plant der Konzern nicht weniger als eine "vollständig überarbeitete Health-App plus einen Gesundheitscoach", wie Bloomberg berichtet. Ein KI-Agent, der – zumindest teilweise – einen echten Arzt ersetzen soll. Die Videos von Ärzten, die eingespeist werden, die Analyse von Bewegungsmustern durch die Smartphone-Kamera, die Verbindung zu zukünftigen Kamera-AirPods – all das zeichnet das Bild einer lückenlosen Gesundheitsüberwachung, die selbst George Orwell hätte erblassen lassen.
Die Ironie ist kaum zu übersehen: Während Apples Siri nach 14 Jahren Entwicklung immer noch Schwierigkeiten hat, einfache Fragen zu beantworten (wie ich in meiner Kolumne vom 13. März feststellte), soll nun eine KI die komplexen Zusammenhänge menschlicher Gesundheit verstehen und personalisierte Ratschläge geben. Vom digitalen Versager zum medizinischen Wunderheiler in einem Produktzyklus – eine bemerkenswerte Transformation.
Mein Sitznachbar hat inzwischen sein Smartphone gezückt und zeigt seiner Begleiterin etwas, das sie zum Lachen bringt. Ich kann nicht umhin, einen Blick zu erhaschen – es ist eine dieser Gesundheits-Apps, die Schritte zählt und bunte Grafiken der täglichen Aktivität anzeigt. "Schau", sagt er stolz, "heute schon 6000 Schritte, und es ist erst 10 Uhr."
Diese Szene illustriert das Paradox unserer Beziehung zur Gesundheitstechnologie perfekt: Einerseits sind wir begeistert von den bunten Diagrammen und dem Gefühl der Kontrolle, das sie vermitteln. Andererseits reduzieren sie die unendliche Komplexität menschlicher Gesundheit auf einfache Zahlen und Visualisierungen – ein Trugbild der Messbarkeit, das uns in falscher Sicherheit wiegt.
Die entscheidende Frage bei Apples "Project Mulberry" ist nicht, ob die Technologie funktioniert – sie wird funktionieren, zumindest auf der oberflächlichen Ebene der Datenerfassung und Korrelation. Die eigentliche Frage ist, was diese Entwicklung mit unserem Verhältnis zu unserem Körper, zu unserer Gesundheit und zu medizinischen Fachleuten macht.
Der Hausarzt des älteren Herrn am Nebentisch kannte ihn seit vierzig Jahren. Er erinnerte sich vielleicht an die Geburt seiner Kinder, an überwundene Krankheiten, an kleine und große Sorgen. Sein Blick erfasste nicht nur medizinische Daten, sondern den ganzen Menschen in seinem sozialen und emotionalen Kontext. Kann eine KI, selbst eine so fortschrittliche wie jene, die Apple verspricht, jemals dieses tiefe, kontextuelle Wissen ersetzen?
Die Antwort ist komplex. Einerseits wird die KI Muster erkennen können, die dem menschlichen Auge entgehen. Sie wird Korrelationen zwischen verschiedenen Gesundheitsparametern herstellen können, die selbst ein erfahrener Arzt vielleicht übersehen würde. Sie wird niemals müde, niemals voreingenommen (zumindest nicht auf menschliche Weise) und immer verfügbar sein.
Andererseits fehlt ihr genau das, was die Medizin seit Hippokrates ausmacht: die menschliche Verbindung. Die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, Ungesagtes zu hören, den Patienten als Teil einer Gemeinschaft, einer Familie, einer Lebensgeschichte zu verstehen.
Die Kellnerin bringt mir eine zweite Melange. "Der Herr nimmt doch immer zwei", sagt sie lächelnd zu ihrer neuen Kollegin. Auch das ist eine Form des kontextuellen Wissens, der Aufmerksamkeit für Muster, die über reine Daten hinausgehen. Würde eine KI diesen speziellen Blick, diese menschliche Antizipation jemals ersetzen können?
Am Ende geht es bei "Project Mulberry" nicht um die Technologie selbst, sondern um das, was sie symbolisiert: unseren unerschütterlichen Glauben, dass Technologie – insbesondere jene mit dem glänzenden Apple-Logo – unsere komplexesten Probleme lösen kann. Es ist der moderne Aberglaube, dass ausreichend fortgeschrittene Algorithmen uns besser verstehen könnten als wir selbst.
Der wahre Test für Apples KI-Gesundheitscoach wird nicht sein, ob er korrekte medizinische Ratschläge geben kann. Es wird sein, ob er weiß, wann er schweigen sollte. Ob er versteht, dass manche gesundheitliche Entscheidungen nicht durch Daten, sondern durch Werte, Überzeugungen und persönliche Lebensumstände bestimmt werden. Ob er die Weisheit besitzt zu erkennen, dass manche Fragen keine eindeutigen Antworten haben – eine Einsicht, zu der selbst viele menschliche Ärzte erst nach Jahren der Praxis gelangen.
Während ich diese Gedanken notiere, bemerke ich, dass der ältere Herr und seine Begleiterin das Café verlassen. Er wirft einen letzten Blick auf sein Smartphone, offensichtlich zufrieden mit seinen Schrittzahlen. Sie haben ihre Jacken angezogen – es ist April, und Wien zeigt sich noch von seiner unbeständigen Seite.
In diesem Moment frage ich mich, ob "Project Mulberry" auch die Fähigkeit haben wird, seinen Nutzern zu sagen: "Zieh eine Jacke an, es wird kälter" – nicht basierend auf Wetterdaten, sondern auf der Art, wie eine Wolke am Himmel aussieht, auf dem spezifischen Wind, der durch die Straßen Wiens weht, auf dem intuitiven Wissen, das man nur durch das Leben in einer Stadt gewinnt.
Wahrscheinlich nicht. Und genau darin liegt sowohl die Stärke als auch die Begrenzung dieser Technologie: Sie wird immer nur das wissen, was messbar ist, was in Daten umgewandelt werden kann. Das Unausgesprochene, das Intuitive, das zutiefst Menschliche wird immer außerhalb ihrer Reichweite bleiben.
Draußen hat es zu regnen begonnen. Ein feiner Nieselregen, der die Konturen der Stadt verschwimmen lässt und alles in einen silbrigen Schleier hüllt. Ich nehme einen Schluck von meiner zweiten Melange und denke: Vielleicht ist das die perfekte Metapher für unsere Beziehung zur Gesundheitstechnologie – wir sehen die Konturen, aber die Feinheiten, die Nuancen, sie verschwimmen im Regen der Daten.
Phil Roosen Emergent und Präsident des Vereins Pura Vida und Stammgast im Café Prückel. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.