Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 5. Juni 2025

"Mama, ich kann das nicht. Die mündliche Prüfung in Geschichte... ich weiß nichts über den Dreißigjährigen Krieg." Das 18-jährige Mädchen am Nebentisch tippt nervös auf ihrem Smartphone. "Dann lern doch!", antwortet die Mutter hilflos. "Aber ChatGPT hat mir schon alles erklärt, trotzdem verstehe ich es nicht."

Eine Szene aus dem Café Prückel an diesem warmen Donnerstagmorgen zur Matura-Zeit – und ein perfektes Sinnbild für das Bildungsdilemma unserer Zeit.

Hier sitzt eine Digital Native, die mühelos mit KI-Systemen interagiert, komplexe Prompts formuliert und sich in virtuellen Welten zurechtfindet – und gleichzeitig scheitert sie an einem Bildungssystem, das darauf beharrt, isolierte Faktenhäufchen abzufragen, als gäbe es kein Internet. Das ist unser Bildungsdilemma: Schüler nutzen täglich Technologien, von denen ihre Großeltern nicht träumen konnten, müssen sich aber in Prüfungen beweisen, die strukturell aus der Zeit Kaiser Franz Josephs stammen.

Wenn Autodidakten das Bildungssystem kritisieren

Als gescheiterter Germanistik-Student empfinde ich das fast als Qualifikation: Während ich mich autodidaktisch weitergebildet und durch praktische Erfahrung zum Experten für digitale Transformation entwickelt habe, hängt das formale Bildungssystem noch immer in jenen starren Denkmustern fest, die mich damals zur Aufgabe einluden.

Das Paradox der "digitalen Betrugsdetektive"

Ein Lehrer am Nebentisch blättert durch handschriftliche Aufsätze. Seine Notizen: "Zu oberflächlich", "Keine eigenen Gedanken", "Wirkt wie kopiert". Er kämpft mit der Frage, ob seine Schüler KI verwendet haben – eine Frage, die das System nicht beantworten kann, weil es die Frage selbst nicht verstanden hat.

Hier liegt das eigentliche Problem: Nicht dass Schüler KI nutzen, sondern dass ein Bildungssystem, das auf der Illusion der isolierten Einzelleistung beruht, von der Realität der vernetzten Intelligenz überrumpelt wird. In der Wirtschaft ist die Nutzung aller verfügbaren Ressourcen längst selbstverständlich – nur in der Schule gilt es noch als Betrug.

Was Digital Natives über Bildung denken

Die Mutter versucht zu helfen: "Früher haben wir auch ohne Computer gelernt." Das Mädchen verdreht die Augen: "Mama, das ist, als würdest du sagen, wir sollen auch ohne Brille sehen oder ohne Auto gehen. Die KI ist Teil von mir, sie erweitert mein Denken."

Ein bemerkenswerter Satz von einer 18-Jährigen, der mehr Verständnis für die digitale Transformation zeigt als die meisten Bildungspolitiker. Die Digital Natives denken bereits in Kategorien der erweiterten Intelligenz – Mensch plus Maschine als neues Standardmodell des Denkens. Das Bildungssystem beharrt auf der Fiktion des isolierten Individuums.

Die verpasste Chance der "Mergitoren"-Generation

Die wahre Tragödie: Während wir über KI-Detection-Software und Plagiatsprüfungen diskutieren, verpassen wir die Chance, eine Generation von "Mergitoren" auszubilden – jenen hybriden Denkern, die menschliche Kreativität und maschinelle Analyse zu neuen Formen der Problemlösung verbinden können.

Stattdessen produziert unser Bildungssystem weiterhin industrielle Arbeiter für eine postindustrielle Welt. Es trainiert Einzelkämpfer für eine vernetzte Realität. Es bewertet Gedächtnisleistung in einer Zeit, in der Information jederzeit verfügbar ist.

Was wäre, wenn wir stattdessen Prüfungen entwickeln würden, die explizit den kompetenten Umgang mit KI-Tools bewerten? Was wäre, wenn wir lehren würden, wie man gute Prompts formuliert, wie man KI-Antworten kritisch hinterfragt, wie man menschliche Kreativität durch maschinelle Unterstützung verstärkt?

Das Wiener Modell: Tradition und Innovation versöhnen

Das Mädchen legt ihr Smartphone weg und skizziert handschriftlich eine Mindmap zum Dreißigjährigen Krieg. Ihre Mutter lächelt erleichtert. Doch ich sehe darin kein Zurück zu analoger Reinheit, sondern ein Nebeneinander verschiedener Denkwerkzeuge. Die junge Frau nutzt sowohl digitale als auch analoge Methoden – sie ist bereits die Mergitorin, die unser Bildungssystem noch nicht erkennt.

Wien hat Jahrhunderte der Veränderung überstanden: industrielle Revolution, zwei Weltkriege, den Wandel von der Monarchie zur EU-Mitgliedschaft. Die Stadt hat gelernt, Altes zu bewahren und Neues zu integrieren.

Vom Wiener Modell können wir lernen: Nicht alles niederreißen, aber auch nicht alles beim Alten lassen. Die Grundwerte des Bildungswesens – kritisches Denken, Kreativität, soziale Kompetenz – sind zeitlos. Die Methoden ihrer Vermittlung müssen sich ändern.

Was Sie als Eltern und Lernende tun können

Die Matura wird bleiben, aber sie muss sich wandeln:

  • Von einem Test der Gedächtnisleistung zu einem Test der Problemlösungskompetenz
  • Von einer Prüfung der Reproduktion zu einer Prüfung der Reflexion
  • Von einem Ritual der Abgrenzung zu einem Ritual der Integration – der Integration von Mensch und Maschine in einer neuen Form des Denkens

Das Mädchen fotografiert ihre fertige Mindmap mit dem Smartphone ab und tippt einen Text dazu – vermutlich ein Prompt für ChatGPT, um ihre handschriftlichen Notizen zu erweitern. Sie lebt bereits in der Zukunft der Bildung. Wenn das System klug ist, folgt es ihr dorthin.

Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Prückel, wo die Zukunft der Bildung in jedem Gespräch zwischen Eltern und Kindern verhandelt wird. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

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