
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 17. April 2025
Der Morgentau glitzert auf den sanften Hügeln Niederösterreichs, während ich meinen ersten Espresso des Tages auf dem schmalen Tisch vor meinem Wohnmobil balanciere. Die Ostertage stehen bevor, und statt im Café Prückel an der Ringstraße sitze ich heute auf dem Stellplatz "Sonnenblick" in der Nähe der Donau. Die Weingärten um mich herum verharren noch in winterlicher Zurückhaltung, aber die Luft trägt bereits den unverkennbaren Duft des Frühlings. Das mobile Leben, dem sich unser Verein Pura Vida verschrieben hat, beschert mir diese wechselnden Perspektiven – manchmal braucht selbst ein Sozialphobiker mit festen Gewohnheiten einen Tapetenwechsel.
Am Nachbarstellplatz macht eine junge Familie ihren Campingbus frühstücksfertig. Der etwa sechsjährige Sohn quengelt: "Aber wann kommt denn der Osterhase? Kann ich nicht schon mal auf dem Tablet nachschauen, wo er gerade ist?" Die Mutter antwortet mit jener geduldigen Resignation, die alle Eltern in der digitalen Ära vereint: "Der Osterhase hat kein GPS, Schatz."
Eine Antwort, die mir einen unfreiwilligen Schmunzler entlockt – und die mich zugleich nachdenklich stimmt. Denn tatsächlich: In einer Welt, in der wir die Bewegungen unserer Paketzusteller minutiös verfolgen können und der Weihnachtsmann längst durch NORAD getrackt wird, scheint der Osterhase eine der letzten analogen Bastionen geblieben zu sein. Eine seltsame Immunität gegen die allumfassende Digitalisierung.
Es ist dieses merkwürdige Überleben vordigitaler Traditionen, das mich heute beschäftigt. Während sich unser Alltag in rasender Geschwindigkeit transformiert, während KI unsere Arbeit revolutioniert, unsere Einkäufe automatisiert und unsere Gesundheit überwacht (wie ich erst vor zwei Wochen über Apples "Project Mulberry" schrieb), halten sich bestimmte kulturelle Praktiken mit erstaunlicher Hartnäckigkeit. Sie widerstehen dem digitalen Wandel mit einer Beharrlichkeit, die fast trotzig wirkt.
Nehmen wir das Ostereiersuchen – dieses seltsame Ritual, bei dem wir bunte Eier und Süßigkeiten verstecken, um sie dann mit gespielter Überraschung wiederzufinden. In seiner analogen Unmittelbarkeit wirkt es fast wie ein Anachronismus. Natürlich gibt es längst Apps zum virtuellen Eiersuchen, QR-Codes auf Schokoladenhasen und Instagram-Filter mit Hasenohren. Aber merkwürdigerweise haben diese digitalen Derivate das ursprüngliche Ritual nicht ersetzt, sondern bestenfalls ergänzt.
Der kleine Junge vom Nachbarstellplatz hat inzwischen sein Tablet bekommen, doch statt eines Osterhasen-Trackings zeigt ihm seine Mutter Bilder von Hasen und historischen Ostereiern. Er scheint enttäuscht – die statischen Bilder können mit seiner gaming-geprägten Erwartungshaltung nicht mithalten. Seine digitale Ungeduld trifft auf das gemächliche Tempo einer Tradition, die in agrarischen Fruchtbarkeitsritualen wurzelt. Ein Clash der Zeitlichkeiten, der symptomatisch für unsere Epoche ist.
Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier vermutlich von "haltgebenden Strukturen" sprechen, von der psychologischen Notwendigkeit von Ritualen, die Kontinuität vermitteln. Als Sozialphobiker verstehe ich das intuitive Bedürfnis nach Berechenbarkeit, nach Wiederholung, nach Vertrautheit – all dem, was religiöse und kulturelle Rituale bieten. Im Gegensatz zur permanenten Disruption der digitalen Sphäre bieten diese Traditionen Ankerpunkte in einer zunehmend liquiden Moderne.
Die Liquidität unserer Zeit – ein Begriff, den der Soziologe Zygmunt Bauman prägte – wird nirgends deutlicher als im Kontrast zwischen technologischer Beschleunigung und ritueller Beständigkeit. Während sich der Algorithmus von Apple Health täglich aktualisiert, um meine Herzfrequenz noch präziser zu erfassen, bleibt das Datum des Osterfestes an einen vormodernen Kalender gebunden: erster Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling. Eine Berechnung, die den Zyklus des Mondes über die rationalisierte Zeit der Digitaluhren stellt.
Ich nehme einen Schluck von meinem mittlerweile lauwarmen Espresso und beobachte, wie der kleine Junge nun doch vom Tablet aufblickt. Er hat einen Hasen am Waldrand entdeckt – einen echten, keinen digitalen. Seine Aufregung ist unbändig, sein Tablet vergessen. Die Direktheit dieser Erfahrung übertrumpft jede Simulation.
Es ist diese direkte, körperliche Dimension, die religiöse und kulturelle Praktiken so widerstandsfähig gegen die Digitalisierung macht. Das Ostereiersuchen spricht alle Sinne an: Der Duft des Frühlings, das haptische Erlebnis des Suchens und Findens, die Geschmacksexplosion der Schokolade. Selbst die fortschrittlichste Mixed-Reality-Brille kann diese multisensorische Erfahrung nicht replizieren – noch nicht.
Am anderen Ende des Stellplatzes hat ein älteres Ehepaar eine kleine Osterkerze auf ihrem Campingtisch aufgestellt. Die Flamme flackert im leichten Frühlingswind – ein uraltes Symbol des Lebens und der Auferstehung. Die Frau liest in einer zerlesenen Bibel, während ihr Mann mit dem Smartphone kämpft. "Ich kann die Gottesdienst-App nicht finden," höre ich ihn murmeln. "Dann gehen wir halt morgen in die Kirche im Dorf," antwortet sie achselzuckend.
Auch hier zeigt sich das komplizierte Nebeneinander von digital und analog. Die App soll den Zugang zur Tradition erleichtern, nicht die Tradition ersetzen. Die Kerze brennt unbeeindruckt von der technischen Frustration – wie sie schon vor Jahrtausenden brannte, lange bevor der erste Computer das Licht der Welt erblickte.
Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, beobachte ich dieses Spannungsfeld besonders intensiv. Unsere Mitglieder nutzen hochmoderne Technologie, um ein Leben zu führen, das in gewisser Weise archaischer ist – näher an Jahreszeiten und Naturrhythmen, frei von den starren Strukturen städtischer Existenz. Wir navigieren mit Satellitenunterstützung zu Orten, an denen wir dann den Sternenhimmel ohne Lichtverschmutzung betrachten können. Wir buchen Stellplätze per App, um dann am Lagerfeuer Geschichten zu erzählen wie unsere Vorfahren.
Diese Parallelität ist kein Widerspruch, sondern vielleicht die authentischste Form zeitgenössischer Existenz: die bewusste Integration vordigitaler Praktiken in ein zunehmend digitalisiertes Leben. Nicht aus Technikverweigerung, sondern aus der Erkenntnis, dass bestimmte Erfahrungen durch Technologie nicht verbessert, sondern nur verändert oder gar reduziert werden können.
Die junge Familie vom Nachbarstellplatz packt inzwischen einen Picknickkorb. Der Junge soll sein Tablet zurücklassen – eine kleine Rebellion bricht aus, wird aber schnell beigelegt. Sie ziehen los zum Waldrand, vielleicht um Ostereier zu verstecken, vielleicht um den Hasen wiederzufinden. Das Tablet bleibt auf dem Campingtisch zurück, ein schwarzer Monolith inmitten der erwachenden Natur.
Was wir hier beobachten, ist kein Kulturschwund, wie ihn die Digitalisierungspessimisten an die Wand malen. Aber auch keine nahtlose Integration, wie sie die Techno-Utopisten prophezeihen. Es ist ein Nebeneinander, ein Verhandlungsprozess zwischen verschiedenen Erfahrungsmodi.
Religion und Brauchtum erweisen sich dabei als erstaunlich anpassungsfähig und zugleich resistent. Sie überleben nicht durch sture Ablehnung des Digitalen, sondern durch selektive Aneignung. Der Papst twittert, während in den Kirchen weiterhin Kerzen brennen. Buddhistische Mönche meditieren, nachdem sie ihre Meditationsapp konsultiert haben. Muslim:innen nutzen Apps, um die Gebetsrichtung nach Mekka zu bestimmen. Das Digitale wird zum Werkzeug des Rituellen, nicht zu seinem Ersatz.
Die wahre Herausforderung liegt vielleicht nicht im Überleben einzelner Traditionen, sondern in der Bewahrung ihrer Tiefendimension. Wenn das Ostereiersuchen zur Instagram-Kulisse verkommt, wenn die Osterkerze primär als Selfie-Beleuchtung dient, wenn der Kirchgang hauptsächlich der sozialen Dokumentation auf Facebook dient – dann haben wir zwar die Form bewahrt, aber den Inhalt entleert.
Die Sonne steht inzwischen höher am Himmel. Mein Espresso ist ausgetrunken, und ich überlege, ob ich den Stellplatz verlassen und einen kleinen Ausflug zur nahen Burgruine machen soll. Der ältere Herr mit dem Smartphone hat aufgegeben und blättert nun gemeinsam mit seiner Frau in der Bibel – ein Bild, das mich seltsam berührt. Die physische Gemeinsamkeit des analogen Lesens, das gemeinsame Gefäß der Aufmerksamkeit, wie es der Philosoph James Williams nennen würde.
Der kleine Junge kommt aufgeregt zurückgelaufen, sein Vater im Schlepptau. "Wir haben einem Osterhasen die Hand geschüttelt!" ruft er begeistert. Ich schmunzle – offensichtlich eine kleine Inszenierung der Eltern, um die österliche Magie zu bewahren. Er greift nach seinem Tablet, vermutlich um das Erlebnis sofort zu dokumentieren, festzuhalten, zu transformieren. Seine Mutter schüttelt sanft den Kopf: "Manche Dinge sind nur für dich, nicht für den Bildschirm."
Ein Satz, der nachhängt. Manche Dinge sind nur für dich, nicht für den Bildschirm. Wahrscheinlich liegt genau hierin das Geheimnis der Resistenz bestimmter Traditionen gegenüber der Digitalisierung: Sie bieten eine Intimität, eine unmittelbare persönliche Erfahrung, die sich der ständigen Teilbarkeit und Öffentlichkeit der digitalen Sphäre widersetzt.
Während ich meine Notizen für diese Kolumne zusammenfasse, werden rund um den Globus Algorithmen versuchen, mir ostertaugliche Produkte anzuzeigen, wird meine Gesundheits-App mich zum Spaziergang an der frischen Frühlingsluft animieren, werden soziale Medien mit Ostergrüßen und -bildern überflutet werden. Gleichzeitig werden Menschen in analogen Ritualen Trost, Gemeinschaft und Transzendenz suchen.
Die Zukunft wird weder eine vollständige Digitalisierung religiöser und kultureller Praktiken bringen noch eine Rückkehr zur reinen Vordigitalität. Sie wird ein komplexes Gewebe aus beidem sein – algorithmisch optimierte Messzeiten und handbemalte Ostereier, Virtual Reality-Kreuzwege und physisches Brotbrechen, digitale Gebetsbücher und die uralte Geste des Kerzenanzündens.
Heute ist Gründonnerstag. Ich werde mein Wohnmobil starten und weiterziehen, vielleicht in Richtung Wachau. Eine kleine Kapelle dort oben in den Weinbergen wartet auf meinen Besuch – nicht aus tiefer Religiosität, sondern aus Respekt vor der kulturellen Kontinuität, die sie repräsentiert. Ich werde eine Kerze anzünden, einen Moment der Stille genießen und dann vielleicht darüber twittern, pardon, einen Text auf Bluesky absenden. Widersprüchlich? Vielleicht. Zeitgemäß? Auf jeden Fall.
Phil Roosen schreibt diese Kolumne vom Stellplatz "Sonnenblick" in Niederösterreich. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.