Eine Betrachtung über den Wandel der Kaffeehauskultur im Zeitalter der künstlichen Intelligenz
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer
I. Die Begegnung
Heute sitze ich wieder an meinem Stammplatz im Café Prückel, beobachte die dämmrige Novemberluft, die sich draußen an der Ringstraße an die beschlagenen Fensterscheiben schmiegt. Der Kellner hat gerade diskret meine Melange erneuert – eine seiner Kernkompetenzen, die vermutlich noch lange keiner KI beizubringen sein wird. Apropos künstliche Intelligenz: Am Nebentisch spielt sich eine Szene ab, die mich schmunzeln lässt.
Ein junger Mann, Typ Start-up-Gründer mit perfekt gestyltem Drei-Tage-Bart, sitzt dort und spricht – mit seinem Smartphone. "Erkläre mir Kant", höre ich ihn sagen, und schon sprudelt aus seinem Gerät eine perfekt strukturierte Zusammenfassung der Kritik der reinen Vernunft. Als Sozialphobiker mit abgebrochenem Germanistikstudium kann ich nicht anders, als eine gewisse Ironie in dieser Situation zu erkennen: Hätte ich damals, als ich an der Lateinprüfung scheiterte, wohl auch eine KI um Hilfe gebeten?
Die Situation erinnert mich an ein Gespräch mit meiner Tochter – Digitalstrategin und native Bewohnerin der Cloud-Welt. "Papa", sagte sie neulich, "die KI demokratisiert doch nur das, was ihr im Kaffeehaus schon immer gemacht habt. Sie macht das Wissen zugänglich, das früher nur einer intellektuellen Elite vorbehalten war." Ein Argument, das mich nachdenklich stimmt, während ich meinen Löffel durch den sich langsam auflösenden Milchschaum ziehe.
II. Das Kaffeehaus im Wandel der Zeit
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht ist die KI tatsächlich nur die logische Weiterentwicklung dessen, was das Wiener Kaffeehaus schon immer war: ein Ort des Wissensaustauschs, der Gedankenexperimente, der verschachtelten Dialoge. Nur dass der Gesprächspartner jetzt in der Cloud sitzt statt am Marmortisch.
Während ich so sitze und nachdenke, stelle ich mir vor, was eine KI eigentlich bräuchte, um ein ebenbürtiger Gesprächspartner für die legendären Kaffeehausrunden zu sein. Für einen Peter Altenberg etwa, der hier im Prückel seine scharfsinnigen Beobachtungen in präzise Prosaminiaturen verwandelte. Oder für die "Wiener Gruppe" um H.C. Artmann, die die Grenzen der Sprache selbst in Frage stellte.
Eine solche KI müsste nicht nur Wissen reproduzieren können – sie müsste vor allem die subtilen Zwischentöne beherrschen. Die Kunst des bedeutungsvollen Schweigens zwischen den Sätzen. Die feinen Nuancen des Wiener Schmähs, diese eigentümliche Mischung aus Melancholie und Ironie. Sie müsste verstehen, dass manchmal eine hochgezogene Augenbraue mehr sagt als ein ganzer philosophischer Traktat.
Mein Sohn würde jetzt vermutlich von Effizienz sprechen. Von optimierten Lernprozessen und demokratisiertem Wissen. Aber verlieren wir mit dieser Effizienz nicht auch etwas? Die Kunst des Umwegs vielleicht, die Fähigkeit, Gedanken schweifen zu lassen, die subtile Magie des Wiener Schmähs?
III. Von Zeitungen und Daten
Apropos Zeitungen – mein Blick schweift zu den Zeitungshaltern, die wie anachronistische Skulpturen an den Wänden des Café Prückel hängen. Früher waren sie prall gefüllt mit raschelndem Papier, heute hängen dort oft nur noch dünne Exemplare dessen, was man euphemistisch "moderne Tageszeitungen" nennt. Viele der Artikel darin sind nicht mehr als hastig zusammenkopierte Agenturmeldungen, garniert mit ein paar KI-generierten Zwischenüberschriften. Der charakteristische Geruch von Druckerschwärze vermischt sich zusehends mit dem Duft der Belanglosigkeit.
Ich beobachte, wie ein anderer Gast – nicht der mit dem Kant-KI-Dialog – routiniert durch sein Smartphone wischt, statt in der vor ihm liegenden Zeitung zu blättern. "Warum soll ich für Nachrichten zahlen?", höre ich ihn zu seinem Begleiter sagen, "im Internet ist doch alles gratis." Ein Satz, der mich innerlich zusammenzucken lässt. Als Sozialphobiker bin ich zwar kein großer Freund spontaner Gespräche, aber hier muss ich mich beherrschen, nicht doch einzuhaken.
Denn natürlich ist nichts gratis im Internet. Wir zahlen, permanent. Nicht mit Euro und Cent, sondern mit der härteren Währung unserer Zeit: unseren Daten, unseren Aufmerksamkeitsspannen, unseren digitalen Fingerabdrücken. Während die klassische Zeitung höchstens registrierte, welche Seiten besonders abgegriffen waren, protokolliert der Online-Artikel präzise, wie lange wir bei welcher Überschrift verweilen, welche Wörter uns zum Klicken verführen, welche Themen uns nachts um drei noch wachhalten.
Die Ironie dabei: Die Menschen sind nicht mehr bereit, ein paar Euro für fundierte Berichterstattung zu zahlen, während sie gleichzeitig bedenkenlos ihre intimsten Vorlieben und Gewohnheiten an die Datenkraken des Internets verfüttern. Ein Geschäft, das selbst der geschäftstüchtigste Kaffeehausbesitzer der Monarchie als unausgewogen bezeichnet hätte.
Was wir dabei verlieren, ist mehr als nur die haptische Freude am Zeitungspapier. Es ist die Kunst des Findens, was wir nicht gesucht haben. Die zufällige Entdeckung eines Artikels beim Umblättern, der unser Leben verändern könnte. Der algorithmusfreie Raum zwischen den Zeilen, wo das Denken noch selbstständig wandern darf.
Eine KI mag tausende Artikel in Sekundenschnelle analysieren können, aber wird sie je verstehen, warum Peter Altenberg stundenlang über einer einzelnen Zeitungsnotiz brüten konnte? Wird sie nachvollziehen können, wie aus der zufälligen Kombination zweier nebeneinanderliegender Artikel plötzlich eine völlig neue Erkenntnis entstehen kann? Oder warum manchmal gerade die scheinbar unwichtigste Meldung am Rand die wichtigste des Tages ist?
Das Kaffeehaus der Zukunft wird wohl ein hybrider Ort sein. Ein Raum, in dem sich analoges und digitales Denken vermischen wie Kaffee und Milch in meiner Tasse. Wo neben dem Zeitungshalter das Tablet steht und die KI als stille Teilnehmerin am Diskurs akzeptiert wird – aber nie den Menschen und seine wunderbar unperfekten Gedankengänge ersetzen kann.
Der junge Mann mit seinem KI-Philosophen hat mittlerweile seine Melange ausgetrunken und packt sein Smartphone ein. Ob er wohl verstanden hat, was Kant wirklich sagen wollte? Ich nippe an meinem eigenen, mittlerweile kühl gewordenen Kaffee und denke: Manchmal ist der Weg zur Erkenntnis wichtiger als die Erkenntnis selbst. Auch wenn die KI uns diesen Weg erheblich verkürzen kann – die wahre Weisheit liegt vielleicht gerade in den Umwegen, den Verzögerungen, den produktiven Irrtümern.
Draußen hat es zu regnen begonnen. Die Tropfen zeichnen verschlungene Muster auf die Fensterscheiben des Café Prückel. Muster, die keine KI je vollständig wird entschlüsseln können. Und genau das, denke ich mir, während ich dem Kellner diskret zunicke, macht sie so wunderbar menschlich.
Phil Roosen ist Präsident des Vereins Pura Vida und Stammgast im Café Prückel. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.