Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 18. Dezember 2025
Die Dezembersonne fällt schräg durch die hohen Fenster des Café Eiles und taucht meinen Stammtisch in ein warmes, fast versöhnliches Licht. Vor mir dampft die dritte Melange des Vormittags, und ich ertappe mich dabei, wie ich etwas tue, das mir in 63 Jahren nur selten passiert ist: Ich überlege ernsthaft, der österreichischen Regierung Blumen zu schicken.
Als diagnostizierter Sozialphobiker und professioneller Skeptiker fällt mir Lob etwa so leicht wie einem Wiener ein freundliches Wort über deutsche Autobahnen. Meine Kolumnen leben von der kritischen Distanz, vom sezierenden Blick auf die Schattenseiten der Digitalisierung. Doch manchmal – sehr selten – geschieht etwas, das diese wohltemperierte Skepsis erschüttert. Das neue Elektrizitätswirtschaftsgesetz, seit 11. Dezember in Kraft, ist so ein Moment.
Am Nebentisch diskutiert eine Gruppe junger Leute über ihre PV-Anlage. "Energy Sharing ist jetzt endlich legal", höre ich einen von ihnen sagen, "wir können unseren Überschuss direkt an die Nachbarn verkaufen." Die Begeisterung in seiner Stimme erinnert mich an die frühen Tage des Internets, als plötzlich jeder zum Sender werden konnte, nicht nur zum Empfänger. Eine ähnliche Demokratisierung findet jetzt im Energiesektor statt – nur dass die Konsequenzen diesmal nicht nur digital, sondern physisch sind.
Die dreifache Wette auf die Zukunft
Das ElWG ist keine technische Reform. Es ist eine Wette auf drei fundamentale Ideen, die unsere Gesellschaft verändern könnten – wenn wir sie ernst nehmen.
Erstens: Die Prosumer-Revolution. Zum ersten Mal anerkennt ein Gesetz offiziell, dass Energie von unten nach oben fließen kann. 450.000 Kleinanlagen gibt es bereits in Österreich. Ich selbst gehöre dazu – mein Wohnmobil, mit dem ich für Pura Vida durch Europa fahre, trägt seit drei Jahren Solarpanels auf dem Dach. Nicht aus Idealismus, sondern aus praktischen Gründen: Autarkie bedeutet Freiheit. Die Freiheit, drei Tage im Nirgendwo zu stehen, ohne nach Steckdosen zu suchen.
Was im Kleinen funktioniert, wird nun systematisch auf die Gesellschaft übertragen. Das Gesetz spricht nicht mehr von "Erzeugern" und "Verbrauchern", sondern von "aktiven Kunden". Diese sprachliche Verschiebung ist mehr als Kosmetik – sie markiert einen Paradigmenwechsel.
Zweitens: Der Sozialtarif. Während am Nebentisch die jungen Tech-Enthusiasten über ihre Solarerträge fachsimpeln, denke ich an die 290.000 einkommensschwachen Haushalte, die nun Zugang zu vergünstigtem Strom erhalten. Die ersten 2.900 Kilowattstunden kosten sie nur 6 Cent statt 14 bis 15 Cent. Für eine Mindestpensionistin sind die gesparten 300 Euro im Jahr nicht das neue iPhone – sie sind der Unterschied zwischen "Heizung aufdrehen" und "Jacke anziehen im Wohnzimmer".
Finanziert wird das nicht aus Steuermitteln, sondern durch eine Umlage auf Energieunternehmen. Eine Umverteilung innerhalb der Branche selbst. Das ist politische Gestaltung statt Marktgläubigkeit – und genau das macht es bemerkenswert.
Drittens: Die technologische Ermöglichung. Smart Meter, dynamische Tarife, systemdienliche Batteriespeicher – das Gesetz schafft die Infrastruktur für eine Energiewelt, die nicht mehr zentral gesteuert wird, sondern als dezentrales Netzwerk funktioniert. Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier von "Ermächtigung" sprechen. Die Technokraten reden von "Lastmanagement". Ich nenne es: Die Rückkehr der Gestaltungsmacht an die Bürger.
Zwischen Euphorie und Ernüchterung
Doch während die Sonne durch die Scheiben scheint und meine Melange langsam kalt wird, muss ich die Euphorie bremsen. Denn jede Revolution wirft neue Fragen auf – und hier beginnt die unbequeme Wahrheit.
Die jungen Leute am Nebentisch haben ein Eigenheim mit geeignetem Dach. Sie haben das Kapital für eine PV-Anlage. Sie haben die Bildung, um die Technologie zu verstehen, und die Zeit, sich mit Förderanträgen zu beschäftigen. Sie gehören zu jenem Teil der Bevölkerung, die von der Energiewende profitieren können.
Aber was ist mit Mietern? Mit Menschen ohne Eigenheim? Mit jenen, die sich keine 15.000 Euro für Solarpanels leisten können?
Hier wird es interessant. Denn das Gesetz versucht nicht, diese Ungerechtigkeit wegzudiskutieren – es geht sie direkt an. Energy Sharing ist genau dafür da: Mieter können sich zu Energiegemeinschaften zusammenschließen, gemeinsam eine Anlage auf dem Dach installieren und den Strom untereinander teilen. Die rechtlichen Hürden, die das bisher verhinderten, sind gefallen.
Natürlich bleibt das eine Frage des Kapitals und der Organisation. Nicht jede Hausgemeinschaft hat die Energie und das Know-how, so ein Projekt zu stemmen. Und hier liegt das eigentliche Problem: Das Gesetz schafft Möglichkeiten, aber es schafft nicht automatisch Gerechtigkeit. Es öffnet Türen – aber durch diese Türen müssen Menschen auch gehen können.
Die symbolische Einspeisegebühr von 0,05 Cent ist genau das: ein Symbol. Sie löst das strukturelle Problem nicht, dass jene, die Kapital haben, von der Energiewende profitieren, während jene ohne Kapital weiterhin zahlen. Der Sozialtarif ist ein Pflaster, keine Heilung. Er lindert, aber er behebt nicht die Grundfrage: Wie schaffen wir eine Energiewende, die nicht zur Umverteilung von unten nach oben wird?
Das Gesetz stellt sich dieser Frage – aber es beantwortet sie nicht vollständig. Vielleicht kann es das auch nicht. Vielleicht ist das die Aufgabe von uns allen.
Der Elefant im Serverraum
Während ich diese Zeilen tippe, verbraucht ChatGPT irgendwo in einem Rechenzentrum Strom. 510.000 Kilowattstunden täglich – so viel wie 17.000 amerikanische Haushalte. Und das ist nur eine einzige KI-Anwendung. Die digitale Revolution, die wir alle mit unseren Klicks befeuern, frisst Energie in einem Tempo, das jede Klimabilanz zur Farce macht.
Das ElWG löst dieses Problem nicht. Es kann es auch nicht lösen. Aber es zeigt einen Weg auf: Wenn Millionen Menschen ihren eigenen grünen Strom produzieren, wenn Batteriespeicher Lastspitzen abfangen, wenn Verbrauch intelligent gesteuert wird – dann verschiebt sich etwas. Langsam. Unspektakulär. Aber spürbar.
Der Gesetzgeber hat hier eine Infrastruktur geschaffen, die Verantwortung von oben nach unten verteilt. Nicht als moralische Verpflichtung, sondern als praktische Möglichkeit. Das ist klug. Das ist politische Gestaltung statt Appell.
Warum es dennoch ein großer Wurf ist
Die Kellnerin bringt mir unaufgefordert eine vierten Melange. Sie kennt meine Gewohnheiten. Ein kleiner Akt der Aufmerksamkeit, der zeigt: Manche Dinge funktionieren nur, weil Menschen aufeinander achten. Systeme brauchen Empathie, um zu funktionieren.
Das ElWG ist deshalb bemerkenswert, weil es drei Dinge verbindet, die in der Politik selten zusammenkommen: technologische Innovation, soziale Gerechtigkeit und pragmatische Umsetzbarkeit. Es ist kein perfektes Gesetz – aber es ist ein ehrliches. Es verspricht keine Utopien, sondern schafft Werkzeuge.
Natürlich baut es auf EU-Vorgaben auf. Die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie 2019/944 gibt den Rahmen vor. Aber während andere Mitgliedstaaten diese Vorgaben technokratisch umsetzen, hat Österreich daraus ein Gesetz gemacht, das eine politische Haltung transportiert: Energie ist kein beliebiges Gut, sondern ein Gemeingut. Der Zugang zu Strom ist ein Grundrecht, keine Marktfrage.
Diese Haltung durchzieht das gesamte Gesetz – vom Sozialtarif über die Prosumer-Förderung bis zur Spitzenkappung, die sicherstellt, dass das System nicht kollabiert, wenn alle gleichzeitig einspeisen. Es ist ein Gesetz, das die Realität anerkennt: Wir leben in einer Übergangszeit zwischen alter und neuer Energiewelt. Und Übergänge brauchen Gestaltung, nicht Laissez-faire.
Die größere Bedeutung
Draußen ist es bereits dunkel geworden. Die Straßenlaternen werfen ihr künstliches Licht auf die Straße – Strom für das Licht, der irgendwo produziert werden musste. Von wem? Unter welchen Bedingungen? Zu welchem Preis?
Das ElWG gibt darauf keine endgültigen Antworten. Aber es öffnet Räume. Räume für Experimente, für Gemeinschaften, für neue Formen der Teilhabe. Es ist ein Gesetz, das die Zukunft nicht vorschreibt, sondern ermöglicht.
Vielleicht ist das die größte Leistung: In Zeiten, in denen Politik oft nur noch reagiert – auf Krisen, auf Märkte, auf Stimmungen – hat hier jemand gestaltet. Nicht perfekt. Nicht radikal. Aber mit einer Klarheit, die Mut macht.
Wenn selbst ein Sozialphobiker mit chronischem Misstrauen gegenüber Machtstrukturen applaudiert, dann muss etwas passiert sein. Etwas, das über den Tag hinausweist. Etwas, das zeigt: Politik kann mehr sein als Verwaltung des Bestehenden.
Die jungen Leute vom Nebentisch packen zusammen. Ihre Diskussion über Kilowattstunden und Einspeisevergütungen hat sie sichtlich elektrisiert – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind nicht nur Konsumenten mehr, sondern Gestalter. Das Gesetz hat ihnen Werkzeuge gegeben. Was sie daraus machen, liegt jetzt bei ihnen.
Und genau das ist vielleicht die wichtigste Botschaft: Die Zukunft unserer Energie liegt nicht allein in den Händen von Konzernen oder Politikern. Sie liegt auch in unseren Händen. In deinen Händen.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Eiles, wo die Steckdosen plötzlich mehr bedeuten als nur Strom. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.
P.S.: Ich habe meine erwachsenen Kinder gefragt, ob sie meine ungewohnte Euphorie teilen. "Papa", sagte meine Tochter, "du wirst alt. Früher hast du immer nur gemeckert." Vielleicht hat sie recht. Oder vielleicht ist das Gesetz wirklich so gut, dass selbst alte Skeptiker Hoffnung schöpfen. Ich tendiere zur zweiten Erklärung – aber fragen Sie mich in einem Jahr nochmal.