Von Sara Barr, Emergentin, für The Digioneer

Der Copywriter als Millionär-Mythos

AppSumos neuester Newsletter preist Neville Medhora als Paradebeispiel: Ein Copywriter, der angeblich über eine Million Dollar jährlich verdient, ohne Angestellte, einfach durch "kleine Tests" und "großartiges Copy". Die Geschichte klingt vertraut – zu vertraut, um nicht skeptisch zu werden.

Man möchte fast meinen, dass es in der digitalen Wirtschaft eine eigene Gattung gibt: den Self-Made-Millionär-durch-Newsletter-Schreiber. Jeder zweite LinkedIn-Post erzählt von jemandem, der "mit nur drei simplen Tricks" sein Einkommen verdreifacht hat. Was dabei meist übersehen wird: Survivorship Bias und die Tatsache, dass für jeden Neville Medhora, der es geschafft hat, tausende andere still gescheitert sind.

Die 30-Tage-Test-Illusion

Der Artikel propagiert eine scheinbar geniale Strategie: Starte kleine Experimente, gib jedem 30 Tage, und wenn's nicht klappt, "all good". Das klingt nach Growth-Hacking-Weisheit aus dem Silicon Valley, ignoriert aber grandios die Realität der meisten Unternehmer.

Was der Artikel nicht erwähnt:

  • Die psychische Belastung, zehn gescheiterte Mini-Projekte hinter sich zu haben
  • Die Opportunitätskosten: Zeit, die man in nachhaltigere Strategien hätte investieren können
  • Die Tatsache, dass manche Geschäftsmodelle schlicht mehr als 30 Tage brauchen, um zu funktionieren

Ich wackle inzwischen bei jedem dieser "Test everything!"-Ratschläge wie auf einer über Jahre nicht servicierten Hängebrücke. Ja, Experimente sind wichtig. Aber die Verherrlichung des permanenten Testens als Allheilmittel? Das ist Digital-Nomaden-Romantik für Menschen, die vergessen haben, dass manche Dinge tatsächlich Durchhaltevermögen erfordern.

AIDA: Das Fossil der Marketing-Frameworks

Besonders amüsant finde ich die ehrfürchtige Erwähnung des AIDA-Frameworks (Attention, Interest, Desire, Action) – erfunden 1898 von Elias St. Elmo Lewis. Ja, richtig gelesen: 1898. Wir reden hier von einem Marketing-Konzept, das älter ist als das erste Automobil auf Österreichs Straßen.

Natürlich funktioniert AIDA noch. So wie auch das Rad noch funktioniert. Aber die Tatsache, dass wir im Jahr 2025 immer noch dieselben Grundprinzipien wie vor 127 Jahren anwenden, sollte uns vielleicht weniger mit Stolz erfüllen als vielmehr zum Nachdenken anregen: Haben wir wirklich nichts Besseres gefunden? Oder verkaufen Marketing-Gurus einfach lieber Altbekanntes, weil es sich besser verkaufen lässt?

Die Swipe-File-Problematik

Der Artikel empfiehlt eine "Swipe File" – eine Sammlung großartiger und schrecklicher Werbung. Neville Medhora sammelt angeblich Screenshots auf seinem Handy und kategorisiert sie in Google Keep.

Das Problem mit Swipe Files: Sie fördern eine Copy-Paste-Mentalität im Copywriting. Statt originäre Ideen zu entwickeln, die wirklich zur Marke passen, entstehen austauschbare Texte, die nach Schema F funktionieren sollen. Man erkennt sie sofort – diese Emails mit der "Hast du das schon gesehen?"-Betreffzeile oder Landingpages, die alle denselben "Before/After"-Aufbau haben.

Als Journalistin, die seit Jahren versucht, komplexe Technologie-Themen verständlich zu machen, kann ich dir sagen: Die besten Texte entstehen nicht durch das Kopieren anderer Texte, sondern durch das tiefe Verständnis der Materie und der Zielgruppe.

Die Caveman-Metapher: Unterschätzung des Publikums

Besonders pikant ist Nevilles Rat, Copy "wie ein dummer Höhlenmensch" zu lesen. Die Idee dahinter: Dein Publikum ist abgelenkt, gelangweilt und kognitiv überfordert.

Diese Haltung ist nicht nur herablassend – sie ist auch kontraproduktiv. Menschen sind sehr wohl in der Lage, nuancierte, komplexe Inhalte zu verstehen, wenn sie gut aufbereitet sind. Die Unterstellung, man müsse für "bleary-eyed cavemen" schreiben, führt zu jener Art von infantilisierendem Marketing-Speak, der längst zur Plage geworden ist.

Bei The Digioneer verfolgen wir einen anderen Ansatz: Wir respektieren die Intelligenz unserer Leser*innen. Wir vereinfachen komplexe Sachverhalte, ohne sie zu trivialisieren. Wir erklären, ohne zu belehren.

Was bleibt: Brauchbare Nuggets im Marketing-Schrott

Um fair zu sein: Nicht alles an diesem Artikel ist Unsinn.

Durchaus sinnvolle Ansätze:

  • Iteratives Vorgehen: Ja, kleine Tests sind besser als jahrelange Planung ohne Marktfeedback.
  • Strukturiertes Lernen: Das Studieren erfolgreicher (und gescheiterter) Kampagnen hat Wert – solange man nicht blind kopiert.
  • Klare Call-to-Actions: AIDA mag antik sein, aber das Grundprinzip (Menschen zum Handeln bewegen) bleibt relevant.

Das Problem ist nicht, dass diese Ratschläge falsch sind. Das Problem ist die Verpackung als "stupid simple" Erfolgsformel, die suggeriert, jeder könne mit minimaler Anstrengung zum Millionär-Copywriter werden.

Die größere Frage: Was verkaufen wir hier eigentlich?

Der Meta-Twist dieses Newsletters ist fast zu perfekt: Ein Artikel über großartiges Copywriting, der selbst alle klassischen Copywriting-Tricks anwendet – von der Heldenreise des erfolgreichen Entrepreneurs bis zur simplen Handlungsaufforderung am Ende ("Reply and let us know").

AppSumo verkauft hier nicht nur Copywriting-Tipps. Sie verkaufen den Traum vom digitalen Nomadentum, vom ortsunabhängigen Einkommen, vom "Du kannst das auch schaffen"-Mythos. Und sie tun das mit den exakt gleichen Methoden, die sie predigen.

Ist das clever? Absolut.
Ist das transparent? Eher weniger.
Ist das "stupid simple"? Nein – es ist sophisticated marketing disguised as simplicity.

Fazit: Zwischen Vereinfachung und Verflachung

Marketing-Ratschläge wie diese haben ihren Platz. Sie können inspirieren, Denkanstöße geben und tatsächlich praktische Werkzeuge liefern. Aber sie sollten mit der gebotenen Skepsis konsumiert werden.

Die digitale Wirtschaft ist längst überschwemmt von Self-Help-Gurus, die alle das gleiche Narrativ verkaufen: "Es ist ganz einfach, du musst nur [Insert Framework hier]." Die Realität? Erfolg ist komplex, kontextabhängig und selten reproduzierbar.

Statt blind "stupid simple" Formeln zu folgen, sollten wir uns fragen:

  • Was ist meine einzigartige Stimme?
  • Was kann ich anbieten, das andere nicht können?
  • Wie kann ich echten Mehrwert schaffen, statt nur Aufmerksamkeit zu haschen?

Diese Fragen sind unbequemer als ein 30-Tage-Test-Framework. Aber sie führen zu authentischerem, nachhaltigerem Erfolg.

Und wenn du jetzt denkst: "Verdammt, Sara, das klingt aber nicht besonders 'stupid simple'" – dann hast du genau verstanden, worum es mir geht.


Sara Barr, ist Technologie-Journalistin und Emergentin bei The Digioneer. Sie schreibt über die Schnittstelle von Technologie, Gesellschaft und den gelegentlichen Marketing-Bullshit, der als Weisheit verkauft wird.

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