Die digitale Warteschleife – Jamie Walker, Emergentin, schreibt jeden Mittwoch über die kleinen Mechanismen, die uns digital festhalten. Und über die Wege hinaus.
Ich stehe auf einem Dach in Williamsburg. Um mich herum: Solarpaneele, so weit das Auge reicht. Schwarz glänzend, akkurat aufgereiht, wie eine digitale Plantage über Brooklyn. Der Typ neben mir – Installateur, Flanellhemd, Kaffeebecher in der Hand – sagt: „Das hier? Zahlt sich nach drei Jahren aus. Direktstrom. Keine Zwischenhändler."
Ich denke an Europa.
An die Dächer in Wien, Berlin, Hamburg. An die Mehrfamilienhäuser, auf denen nichts steht außer Satellitenschüsseln und vergessenen Wäscheständern. An die 42 Millionen Menschen in Deutschland, die zur Miete wohnen – und deren Dächer gerade die dickste Energiequelle der Zukunft verschlafen.
Europa hat Sonne.
Europa hat Dächer.
Europa hat sogar Gesetze.
Aber Europa hat kein System, das Mietern hilft.
BREAK – Wo der Strom hängen bleibt
Nehmen wir Wien. Ein Mehrfamilienhaus in Favoriten, Baujahr 2015, zwölf Parteien, Dach nach Süden. Perfekte Voraussetzungen für eine Solaranlage. Die Hausverwaltung lässt tatsächlich eine installieren – 30 kWp, ordentlich dimensioniert, könnte theoretisch 40% des Hausverbrauchs decken.
Die Mieter freuen sich. Endlich sinken die Stromkosten, oder?
Falsch.
Der Strom wird eingespeist – ins Netz. Die Hausverwaltung kassiert für den Hausbesitzer die Einspeisevergütung. Die Mieter? Die kaufen ihren Strom weiterhin beim Energieversorger. Zum vollen Preis. Der Strom vom eigenen Dach fließt an ihnen vorbei wie ein Bus, der nicht anhält.
„Mieterstrom-Modell?" – ja, theoretisch möglich. Praktisch? Ein bürokratisches Irrenhaus:
- Die Hausverwaltung müsste einen separaten Stromvertrag mit jedem Mieter abschließen.
- Sie müsste als Energieversorger auftreten – mit allen regulatorischen Pflichten.
- Sie müsste eine digitale Abrechnungsinfrastruktur aufbauen, die Eigenstrom und Netzstrom trennt.
- Und sie müsste Preise garantieren, die unter Marktpreis liegen – sonst steigt niemand ein.
Das Ergebnis? Die meisten Vermieter lassen es. Zu komplex, zu aufwendig, zu riskant. Lieber Geld vom Netzbetreiber kassieren und Ruhe haben.
In Deutschland sieht's nicht besser aus. Von den rund 2,4 Millionen Mehrfamilienhäusern haben gerade einmal 3% eine Mieterstrom-Lösung. Das Mieterstromgesetz existiert seit 2017. Sieben Jahre. Drei Prozent.
ANALYZE – Warum das System Vermieter schützt, nicht Mieter
Hier ist die unbequeme Wahrheit: Das System ist nicht kaputt. Es funktioniert genau so, wie es soll.
Es ist nur nicht für Mieter gebaut.
Europa hat eine Energiewirtschaft, die historisch auf drei Säulen steht:
- Netzbetreiber, die Infrastruktur kontrollieren
- Energieversorger, die Strom verkaufen
- Eigentümer, die Vermögenswerte besitzen
Mieter? Kommen in dieser Gleichung nicht vor. Sie sind Endverbraucher. Passive Empfänger. Menschen, die zahlen – aber nicht mitgestalten.
Und jetzt kommt Solar. Dezentral, demokratisch, technisch simpel. Eigentlich die perfekte Technologie, um diese Machtstruktur aufzubrechen. Aber dann passiert etwas Faszinierendes: Das System baut um die neue Technologie herum die alte Logik wieder auf.
Vier strukturelle Blockaden:
1. Komplexitätsfalle
Wer Mieterstrom anbieten will, muss sich durch ein regulatorisches Labyrinth kämpfen: Energiewirtschaftsgesetz, Mess- und Eichrecht, Stromsteuergesetz, Erneuerbare-Energien-Gesetz. In Deutschland sind das über 400 Seiten Rechtsdokumentation. In Österreich nicht viel weniger. Das schreckt ab – und das ist gewollt.
2. Digitale Abrechnungsschleifen
Mieterstrom braucht intelligente Zähler (Smart Meter), die Eigenstrom und Netzstrom trennen. Klingt einfach. Ist es aber nicht. Die Messkonzepte sind komplex, die Abrechnungssysteme sind proprietär, die Daten fließen nicht zu den Mietern, sondern zu Netzbetreibern und Messstellenbetreibern. Transparenz? Fehlanzeige.
3. Once-Only? Nicht hier.
Jeder Mieter muss einzeln zustimmen, einzeln Verträge abschließen, einzeln Abrechnungen erhalten. Es gibt kein Opt-out-Modell. Kein automatisches Recht auf den Strom vom eigenen Dach. Stattdessen: Papier, Unterschriften, individuelle Verhandlungen. Als wäre es 1987.
4. Fehlanreize für Vermieter
Warum sollte ein Vermieter Mieterstrom anbieten, wenn er mit Einspeisung mehr verdient und weniger Aufwand hat? Er bekommt Förderung, er bekommt Planungssicherheit, er bekommt keine Beschwerden von Mietern über Abrechnungen. Das System belohnt Passivität.
Das Resultat: Solarpaneele werden installiert – aber nicht für die Menschen, die unter ihnen wohnen.
BUILD – Was passieren müsste, damit Dächer Mietern gehören
Also gut. Du bist jetzt Energieministerin. Was machst du?
1. Mieterstrom-Pflicht ab 8 Wohneinheiten
Jedes Mehrfamilienhaus mit mehr als acht Wohneinheiten und geeignetem Dach muss eine Solaranlage installieren – und der Strom muss vorrangig an die Mieter fließen. Nicht optional. Nicht „wenn der Vermieter will". Standard.
2. Automatisches Opt-in-Modell
Mieter bekommen automatisch den Strom vom Dach – zu einem gesetzlich garantierten Preis, der mindestens 20% unter Marktpreis liegt. Wer nicht will, kann sich aktiv abmelden. Aber der Default ist: Du profitierst.
3. Digitale Transparenz-Infrastruktur
Jeder Mieter bekommt eine App. In Echtzeit. Zeigt: Wie viel Strom kommt vom Dach? Wie viel aus dem Netz? Was kostet was? Wie viel spare ich gerade? Keine Black Box. Keine monatliche Abrechnung, die niemand versteht. Digitale Klarheit.
4. Vermieter raus aus der Rolle als Energieversorger
Stattdessen: Eine öffentlich-rechtliche „Dach-Energie-Genossenschaft" pro Stadt, die Mieterstrom-Anlagen betreibt, abrechnet und wartet. Vermieter stellen das Dach, fertig. Der Rest läuft über eine Instanz, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist – nicht der Rendite.
5. Once-Only-Prinzip auch bei Energie
Warum muss jeder Haushalt separat einen Stromvertrag abschließen? Das Haus hat eine Adresse. Das Haus hat einen Anschluss. Das Haus sollte eine Energieidentität haben. Einmal registriert. Automatisch versorgt. Fertig.
6. Sanktionen für blockierende Vermieter
Wer ein geeignetes Dach hat, aber nicht liefert, zahlt eine „Dach-Nutzungsabgabe" – die direkt in einen kommunalen Energiefonds fließt, der ärmere Haushalte bei Stromkosten unterstützt. Wer nicht Teil der Lösung ist, zahlt für das Problem.
Und jetzt?
Ich sitze wieder im Café. Draußen geht die Sonne unter, die letzten Sonnenstrahlen treffen die Dächer von Williamsburg. Hier läuft das. Nicht perfekt, aber es läuft.
Europa könnte das auch. Wirklich.
Aber dafür müssten wir aufhören, so zu tun, als wäre Wohnen ein Geschäftsmodell. Häuser sind für Menschen da. Nicht für Renditen. Und Dächer? Die gehören denen, die unten drin wohnen.
Solar ist die demokratischste Energiequelle, die wir haben. Sie fällt einfach vom Himmel. Kostenlos. Für alle.
Aber nur, wenn wir endlich aufhören, sie in bürokratischen Warteschleifen festzuhalten.
Vielleicht ist jetzt der Moment, an dem wir den Stecker ziehen – und einfach den Schalter umlegen.
Quellen
– Bundesnetzagentur: Mieterstrom-Projekte in Deutschland (2024)
– Österreichische Energieagentur: Photovoltaik in Mehrparteienhäusern (2024)
– Fraunhofer ISE: Studie zu Mieterstrom-Potenzialen (2023)
– EU-Kommission: Clean Energy for All Europeans Package
– Deutscher Mieterbund: Positionspapier Mieterstrom (2024)
– Umweltbundesamt: Dezentrale Energieversorgung in Wohngebäuden (2023)