
Von Sara Barr für The Digioneer
Wenn mir sowas wie Marketing-Verzweiflung aus meist echt banalen Gründen den Nacken hochkriecht – etwa weil ich wieder eine E-Mail mit dem Betreff "Die kleine KI, die dein Marketing groß macht" bekomme – habe ich eine einfache Neutralisierungsmethode entwickelt. Ich schaue mir die aktuellen Reichweiten-Statistiken organischer Posts an und denke: "Meine Sorgen möchte ich haben."
Das große Sterben der organischen Reichweite
Sprechen wir Klartext: Organische Reichweite auf Social Media ist seit etwa 2018 so tot wie meine Hoffnung, dass Facebook jemals wieder eine Plattform für echte Verbindungen wird. Die Zahlen sind brutal ehrlich: Ein durchschnittlicher Instagram-Post erreicht heute weniger als 2% der eigenen Follower. Bei Facebook sind es noch magere 1,5%. Twitter? Vergiss es – da scrollt inzwischen hauptsächlich Elon Musk durch seine eigene Timeline.
Und hier kommt Marky ins Spiel – ein KI-Tool, das nach einer Million getesteter Marketing-Lösungen tatsächlich überraschend durchdacht wirkt. Nach jahrelangem Testen von Tools, die entweder hoffnungslos überkomplex oder peinlich simpel waren, ist Marky eines der wenigen, das seinen Job macht, ohne dabei zu nerven. Es generiert Content, der nicht nach Roboter klingt, sieht halbwegs anständig aus und nervt nicht mit tausend unnötigen Features.
Ich wollte eine coole Rezension für ein cooles Tool schreiben.
Doch dann kroch wieder das Grauen meinen Nacken hoch. Und das Grauen hat einen Namen: Social Media!
Leider kann halt selbst ein richtig gutes Tool ein strukturell kaputtes System nicht reparieren. Die Plattformen haben ihre Algorithmen so programmiert, dass sie organische Inhalte systematisch unterdrücken. Warum? Weil jeder Euro, den du nicht für Werbung ausgibst, ein verlorener Euro für Meta, TikTok und Co. ist. Das ist kein Verschwörungsgedanke, das ist Geschäftsmodell.
Wer tummelt sich eigentlich noch da draußen?
Die ungeschminkte Wahrheit über Social Media 2025: Die Nutzerschaft ist fragmentiert, überreizt und kaufmüde. Schauen wir uns die Realität an:
Instagram: Hauptsächlich 16-28-Jährige, die zwischen Lifestyle-Influencern und Mental-Health-Content hin und her switchen. Kaufkraft? Begrenzt. Aufmerksamkeitsspanne? Noch begrenzter.
LinkedIn: Das digitale Networking-Theater, wo jeder so tut, als wäre sein Frühstück eine "key learning" fürs Business. Hier postet man hauptsächlich für andere Marketer – ein perfekter Kreislauf der Selbstbespiegelung.
TikTok: Teenagers und Twens, die sich durch 15-Sekunden-Videos scrollen. Wenn du B2B-Software verkaufst oder Steuerberatung anbietest, ist das ungefähr so zielführend wie Werbung im Kinder-TV.
Facebook: Die über 50-Jährigen und Familienfotos. Plus Werbeanzeigen. Sehr viele Werbeanzeigen.
Die entscheidende Frage, die sich jeder stellen sollte: Sind das wirklich deine Kunden? Wenn du Rechtsanwältin bist, Architekt oder eine B2B-Software anbietest – glaubst du ernsthaft, dass deine Zielgruppe zwischen Dance-Videos und Memes auf deine Expertise wartet?
Der Marky-Mythos: Automatisierung eines kaputten Systems
Marky verspricht, aus Website-Inhalten automatisch "professionell designte Posts" zu erstellen. Das ist ungefähr so, als würde man einen Roboter bauen, der automatisch tote Fische ins Meer wirft und hofft, dass sie wieder lebendig werden.
Die "3,4-mal bessere Performance" klingt beeindruckend, bis man realisiert: 3,4-mal mehr von fast nichts ist immer noch fast nichts. Wenn dein organischer Post normalerweise 12 Personen erreicht, sind 40 Personen zwar eine Steigerung – aber trotzdem irrelevant für dein Business.
Die Psychologie des Social-Media-Wahns
Warum verfallen dennoch so viele kleine Unternehmer der Social-Media-Illusion? Es ist eine Mischung aus FOMO, Selbstbetrug und der Verwechslung von Aktivität mit Produktivität.
Der Sichtbarkeits-Mythos: "Ich muss sichtbar sein!" Aber sichtbar wofür? Für wen? Ein Notar braucht keine Follower, sondern Mandanten. Ein Architekt braucht keine Likes, sondern Aufträge. Ein B2B-Software-Anbieter braucht keine Reichweite, sondern qualifizierte Leads.
Die Kostenlos-Illusion: Social Media erscheint kostenlos, aber die investierte Zeit und die Opportunitätskosten sind enorm. Die Stunden, die du mit dem Planen, Erstellen und Veröffentlichen von Posts verbringst, könntest du nutzen, um echte Kundenbeziehungen aufzubauen, dein Produkt zu verbessern oder einfach bessere Arbeit zu leisten.
Was funktioniert wirklich noch?
Statt auf das tote Pferd Social Media zu setzen, sollten kleine Unternehmen ihre Energie anders investieren:
E-Mail-Marketing: Funktioniert noch immer. Du erreichst Menschen direkt, ohne algorithmsiche Filter. Eine gut gepflegte E-Mail-Liste ist mehr wert als 10.000 Instagram-Follower.
SEO und Content-Marketing: Wenn Menschen nach deiner Dienstleistung suchen, sollten sie dich finden. Ein gut optimierter Blog oder eine Website bringt dir qualifizierte Besucher – keine zufälligen Scroll-Zombies.
Direktes Networking: Fachkonferenzen, Branchenveranstaltungen, persönliche Empfehlungen. Altmodisch? Ja. Effektiv? Definitiv.
Google Ads: Wenigstens ehrlich. Du zahlst, du wirst gesehen. Keine Algorithmus-Spielchen, keine organische Reichweiten-Lotterie.
KI: ach ja, da ist ein neuer Spieler im Rennen. Noch wissen wir sehr wenig über ihn. Frag die KI mal über deine Firma aus. Du wirst sehen, oder nicht.
Die Marky-Realität: Ein Tool für ein kaputtes System
Marky mag ein technisch solides Tool sein. Aber es automatisiert ein fundamentell kaputtes System. Es ist, als würde man eine KI entwickeln, die automatisch Faxe versendet – technisch beeindruckend, aber strategisch fragwürdig.
Die eigentliche Frage ist nicht, ob Marky gute Posts erstellt, sondern ob Posts überhaupt noch eine sinnvolle Marketing-Strategie sind. Für die meisten Unternehmen lautet die Antwort: Nein.
Die unangenehme Wahrheit
Social Media hat sich von einem Kommunikationsmedium zu einer Aufmerksamkeits-Ökonomie entwickelt, in der nur noch bezahlte Inhalte und extreme Emotionen durchdringen. Kleine Unternehmen sind dabei die Verlierer – sie haben weder das Budget für massive Ad-Kampagnen noch die Ressourcen für viralen Content.
Tools wie Marky verkaufen den Traum, dass man mit besserer Automatisierung doch noch gewinnen kann. Aber sie übersehen die Grundwahrheit: Das Spiel ist manipuliert, und die Bank gewinnt immer.
Die wissenschaftliche Bestätigung: Social Media ist strukturell kaputt
Während ich diesen Text schrieb, veröffentlichte eine Studie der Universität Amsterdam genau das, was jeder halbwegs vernunftbegabte Mensch schon lange wusste: Social Media ist strukturell nicht zu retten. Die Forscher Petter Törnberg und Maik Larooij simulierten soziale Netzwerke ohne jegliche algorithmische Verstärkung – und siehe da: Auch ohne komplexe Algorithmen entstanden automatisch Echokammern, toxische Debatten und die Dominanz provokanter Inhalte.
Das Problem liegt nicht an den bösen Algorithmen, sondern am System selbst: Ein Prozent der Nutzer dominiert die Gespräche, während der Rest praktisch stumm bleibt. Emotionale, polarisierende Inhalte setzen sich durch – völlig unabhängig davon, ob ein Algorithmus nachhilft oder nicht.
Die Forscher testeten sechs gängige "Lösungen" – chronologische Feeds, Brücken-Algorithmen, das Verstecken von Likes. Ergebnis: Manche Maßnahmen verbesserten einen Aspekt minimal, verschlechterten dafür aber andere. Keine einzige Intervention konnte das toxische Grundmuster durchbrechen.
Törnbergs Fazit ist brutal ehrlich: Social Media in der jetzigen Form wird nicht überleben. Seine Prognose? Kleinere, geschlossene und moderierte Communities werden die großen, offenen Feeds ersetzen. Und auf die Frage, ob das Ende der großen Netzwerke befreiend wirken könnte, antwortet er trocken: "Vielleicht ist es einfach ein 'good riddance'."
Fazit: Aufwachen aus dem Social-Media-Traum
Die Wissenschaft bestätigt also, was Praktiker schon lange wissen: Das System ist nicht reparierbar, weil es von Grund auf fehlerhaft konstruiert ist. Anstatt 20 Euro monatlich für ein Tool auszugeben, das ein wissenschaftlich bestätigt totes System wiederzubeleben versucht, sollten kleine Unternehmen ihre Marketing-Strategie grundlegend überdenken.
Konzentriert euch auf das, was funktioniert: direkte Kundenansprache, Qualität statt Quantität, echte Beziehungen statt digitale Follower-Zahlen. Die wirkliche digitale Fairness liegt nicht in besseren KI-Tools für Social Media, sondern in der Erkenntnis, dass man nicht jede technologische Möglichkeit nutzen muss – besonders nicht die, die längst zur Zeitverschwendung geworden sind.
Manchmal ist die mutigste Entscheidung, ein Spiel nicht zu spielen, in dem man nur verlieren kann.
Sara Barr ist Technologie-Journalistin mit Fokus auf digitale Transformation und deren gesellschaftliche Implikationen. Sie schreibt regelmäßig für The Digioneer über die Schnittstelle von Technologie und Gesellschaft.
Weiterlesen



