Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 10. Juli 2025
Der Sand von Calvi ist noch kühl unter meinen Füßen, während die ersten Sonnenstrahlen die korsische Küste in ein goldenes Licht tauchen. Hinter mir steht Hilde, mein treues Wohnmobil, dessen blaue Flanke im Morgenlicht glänzt wie ein gestrandeter Wal. Ich sitze mit meinem mobilen Büro – einem Laptop und einem dampfenden Espresso aus der Bordküche – am Rand meines improvisierten Stellplatzes und beobachte die ersten Touristen, die ihre Smartphones zücken, um den Sonnenaufgang zu dokumentieren.
"Frag doch ChatGPT, wo hier das beste Restaurant ist", höre ich eine deutsche Stimme rufen. Ein junges Paar, vermutlich Mitte zwanzig, steht keine zehn Meter entfernt und tippt eifrig auf ihren Bildschirmen herum. Die KI als Reiseführer, als Entscheidungshelfer, als digitaler Orakel für jeden Lebensbereich. Während ich ihnen dabei zusehe, muss ich an die Frage denken, die mich seit Tagen beschäftigt: Sind wir so geblendet von der KI-Revolution, dass wir die anderen tektonischen Verschiebungen übersehen, die parallel unsere Welt umgestalten?
Als diagnostizierter Sozialphobiker schätze ich diese frühmorgendlichen Momente der Ruhe, bevor der Strand sich mit Menschen füllt. Es ist die perfekte Zeit für Beobachtungen – und für die Erkenntnis, dass unsere Obsession mit künstlicher Intelligenz möglicherweise den Blick auf andere fundamentale Umwälzungen verstellt.
Das Paar hat inzwischen eine Antwort bekommen und marschiert entschlossen in Richtung Hafen. ChatGPT hat entschieden, wo sie frühstücken werden. Während ich ihnen nachblicke, vibriert mein Smartphone – eine Nachricht von der Bank über eine "quantensichere Verschlüsselung", die ab sofort implementiert wird. Ein Detail, das die meisten wohl überlesen werden, aber für mich ein Zeichen einer stillen Revolution, die sich vollzieht, während alle Welt über Chatbots spricht.
Quantencomputing. Schon das Wort klingt nach Science Fiction, dabei steht es kurz vor dem kommerziellen Durchbruch. Während wir darüber diskutieren, ob ChatGPT uns alle überflüssig macht, arbeiten Forscher an Computern, die unsere gesamte digitale Sicherheitsinfrastruktur obsolet machen könnten. Die Ironie dabei: Die meisten Menschen haben noch nie von der "quantensicheren Verschlüsselung" gehört, die ihre Banktransaktionen schützen soll, aber sie können stundenlang über die neuesten ChatGPT-Features diskutieren.
Ich blicke zu Hilde hinüber, deren Bordcomputer wahrscheinlich bereits mehr Rechenleistung besitzt als ganze Universitäten vor zwei Jahrzehnten hatten. "Du hast schon wieder diesen nachdenklichen Blick", würde meine Frau jetzt sagen, wenn sie hier wäre. Aber sie ist in Wien, und ich genieße diese seltenen Momente der Einsamkeit mit meinem rollenden Zuhause.
Hier liegt das Problem: KI ist laut, spektakulär, für jedermann sichtbar. Ein Chatbot, der menschenähnliche Antworten gibt, fasziniert intuitiv. Aber die wirklich transformativen Technologien arbeiten oft im Verborgenen. 6G-Netzwerke ermöglichen es mir, hier am Strand von Korsika aus zu arbeiten, als säße ich in meinem Wiener Büro. Die Geschwindigkeit und Latenz sind so gering geworden, dass Entfernung praktisch keine Rolle mehr spielt. Doch niemand redet darüber – 6G ist nicht "sexy" genug für die Schlagzeilen.
Ein älterer Herr baut nebenan sein Zelt auf. Seine Bewegungen sind präzise, routiniert – ein erfahrener Camper. Als er sein Smartphone herausholt, nicht um mit einer KI zu chatten, sondern um seinen Blutdruck zu messen, denke ich an die biotechnologische Revolution, die sich stillschweigend vollzieht. Sein Gerät nutzt wahrscheinlich CRISPR-basierte Sensortechnologie, um seine Gesundheitsdaten zu analysieren. Personalisierte Medizin, die auf seiner individuellen DNA basiert, längst keine Zukunftsmusik mehr, sondern Realität am Campingplatz von Calvi.
"Die Menschen sehen nur das Offensichtliche", murmele ich vor mich hin, während ich einen Blick auf Hildes Armaturenbrett werfe, das mehr Technologie beherbergt als ein Raumschiff aus den 80er Jahren. "Sie starren auf ChatGPT und übersehen, dass ihr Smartphone bereits mit Quantensensoren arbeitet, dass ihre Medikamente mithilfe von KI und Biotechnologie personalisiert werden, dass das Netzwerk, über das sie ihre TikTok-Videos streamen, eine technologische Revolution darstellt, die vor fünf Jahren noch undenkbar war."
Das deutsche Paar kehrt zurück, diesmal mit Croissants und einem lebhaften Gespräch über "die KI-Revolution, die alles verändert". Ironisch. Sie führen diese Unterhaltung über ein 6G-Netzwerk, das ihre Worte in Echtzeit um den Globus übertragen könnte, bezahlen wahrscheinlich mit einer blockchain-basierten Zahlungsmethode und ihr Auto – falls sie eines gemietet haben – navigiert mithilfe von Quantensensoren. Aber die "Revolution", über die sie sprechen, beschränkt sich auf den Chatbot in ihrer Tasche.
Ich nehme einen Schluck von meinem Espresso und überlege, ob wir nicht Opfer unserer eigenen Aufmerksamkeitsökonomie geworden sind. KI ist das perfekte Medienereignis – verständlich, kontrovers, persönlich relevant. Quantencomputing hingegen ist abstrakt, biotechnologische Durchbrüche sind komplex, 6G-Technologie ist unsichtbar. Die spektakulärsten Revolutionen finden oft im Stillen statt, während die Medien über die lautesten berichten.
Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, erlebe ich diese stillen Revolutionen täglich. Hilde und ich sind ein perfektes Beispiel: Mein Wohnmobil ist vollgepackt mit Sensoren, deren Technologie vor einem Jahrzehnt in keinem James-Bond-Film für realistisch gehalten worden wäre. Wir navigieren mit Quantengenauigkeit, kommunizieren über Netzwerke, die praktisch lichtschnell sind, und meine Gesundheit wird von Biotechnologie überwacht, die meine DNA in Echtzeit analysiert. Aber die Gespräche an den Stellplätzen drehen sich um ChatGPT.
Ich klopfe liebevoll auf Hildes Außenwand. "Du bist ein rollendes Technologielabor", sage ich zu ihr, "aber die Leute sehen nur ein Wohnmobil." Sie antwortet nicht – sie kann es noch nicht. Aber in ein paar Jahren wird vermutlich auch das möglich sein.
Die Sonne steht inzwischen höher am Himmel, und der Strand füllt sich mit Menschen. Jeder hat ein Smartphone in der Hand, jeder ist vernetzt mit einem globalen Netzwerk aus Quantencomputern, Biotechnologie und 6G-Infrastruktur. Sie alle sind Teilnehmer an multiplen technologischen Revolutionen, aber sie nehmen nur eine davon bewusst wahr.
Vielleicht ist das menschlich. Vielleicht können wir gar nicht anders, als uns auf eine Revolution zu konzentrieren und die anderen zu übersehen. Oder vielleicht ist es symptomatisch für eine Zeit, in der Komplexität so überwältigend geworden ist, dass wir uns an die einfachsten Narrative klammern.
Während ich meine Sachen zusammenpacke und zu Hilde zurückkehre, denke ich an die Kolumne, die ich heute schreiben werde. Über die stillen Revolutionen, die niemand bemerkt. Über die Gefahr, das Große Ganze aus den Augen zu verlieren, während wir auf das Offensichtliche starren. Über die Ironie, dass wir über die Zukunft der KI debattieren, während wir bereits in einer Welt leben, die von Technologien geprägt ist, die vor kurzem noch pure Science Fiction waren.
Das deutsche Paar ist verschwunden, wahrscheinlich auf der Suche nach dem nächsten Instagram-würdigen Ort, den ChatGPT empfohlen hat. Ihr digitaler Reiseführer wird sie zu Plätzen führen, die bereits von Algorithmen optimiert wurden, über Straßen, die von quantengestützten Systemen überwacht werden, mit Fahrzeugen, die biotechnologische Kraftstoffe nutzen. Sie werden diese Reise als "analog" erleben und dabei von mehr Technologie umgeben sein, als in einem Science-Fiction-Film der 90er Jahre zu sehen war.
In ein paar Tagen werden sie nach Hause fahren und ihren Freunden von Korsika erzählen. Sie werden die spektakulären Sonnenuntergänge erwähnen, das türkisblaue Wasser, vielleicht sogar die lustigen Antworten von ChatGPT. Aber sie werden nicht erwähnen, dass sie Teilnehmer an einer der größten technologischen Transformationen der Menschheitsgeschichte waren – nicht nur der KI-Revolution, sondern eines ganzen Orchesters von Revolutionen, das im Hintergrund spielt, während alle Augen auf den Solisten gerichtet sind.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne vom Strand von Calvi auf Korsika, wo er mit seinem Wohnmobil Hilde die stillen Revolutionen beobachtet, die sich vollziehen, während alle Welt auf ChatGPT starrt. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.