
Von Agathe Agricola, die sich fragt, ob wir gerade eine digitale Völkerwanderung zurück in die physische Welt erleben
Der Thermomix wird theatralisch inszeniert, Plüschpfannkuchen werden "zubereitet" und in Laufgruppen schließen sich über 300.000 Menschen einem Sportartikelhersteller an. Was klingt wie Szenen aus der Vor-Smartphone-Ära, ist tatsächlich die neueste Marketing-Revolution. Willkommen auf dem OMR Festival 2025 in Hamburg, wo sich die digitale Elite versammelt, um das Ende der rein digitalen Ära zu verkünden.
Die Flucht aus dem Silikontal: Von KI-Wüsten und menschlichen Oasen
Die Zahlen vom OMR Festival zeichnen ein Bild, das dystopischer nicht sein könnte: Organische Klickraten bei Google sind von 4,0 auf mickrige 0,6 Prozent abgestürzt. Selbst bezahlte Anzeigen locken nur noch 6,6 Prozent der Nutzer zum Klick – ein dramatischer Absturz von vormals 17,2 Prozent. Der Durchschnitts-Traffic, den KI-gestützte Suche einer Website beschert, liegt bei schwindelerregenden 0,17 Prozent.
Doch während diese Statistiken im klimatisierten Messesaal präsentiert werden, geschieht draußen etwas Faszinierendes: Menschen treffen sich zum Laufen, besuchen Pop-up-Shops und schwitzen gemeinsam in Modenschauen für Autohersteller. Als hätten wir kollektiv genug von der digitalen Überreizung, wenden wir uns wieder dem zu, was Marketing vor dem Smartphone-Zeitalter war: ein sinnliches, gemeinschaftliches Erlebnis.
Misstrauische Masse: Das digitale Vertrauensparadoxon
Die Ursache für diese merkwürdige Renaissance des Physischen liegt in einem kollektiven Vertrauensverlust. Laut den OMR-Rednern glauben rund 70 Prozent der Menschen nicht mehr richtig, was sie im Internet sehen. Eine bemerkenswerte Erkenntnis, bedenkt man, dass dieselben Menschen ihr Bankkonto, ihre intimsten Geheimnisse und ihre täglichen Routinen eben jenem Internet anvertrauen.
Was wir erleben, ist kein Geringeres als die Geburt eines neuen Paradoxons: Je digitaler unsere Infrastruktur, desto analoger muss unser Marketing werden. Je mehr KI-generierte Inhalte uns umgeben, desto wertvoller wird die authentische menschliche Interaktion.
Die neue Community-Ökonomie: Vom Follower zum Mitläufer
In dieser neu entstehenden Marketing-Welt gewinnt ein alter Begriff eine überraschend wörtliche Bedeutung zurück: der "Follower". In der physischen Welt sind Follower nicht mehr nur anonyme Profilstatistiken, sondern Menschen, die tatsächlich irgendwohin folgen – zum Beispiel einem Laufclub.
Das von OMR-Rednern präsentierte Beispiel Another Cotton Lab illustriert diesen Trend eindrucksvoll: Von einer Million Euro Umsatz auf 9,4 Millionen binnen eines Jahres – nicht durch ausgeklügelte Targeting-Algorithmen, sondern durch Schweißperlen und Gemeinschaftsgefühl. Der "Sunday Running Club" versammelt Menschen, die gemeinsam Sport treiben und nebenbei die Marke erleben.
Lululemon schafft es sogar, 300.000 Menschen in der Strava-App zu mobilisieren – nicht als passive Konsumenten digitaler Werbebotschaften, sondern als aktive Teilnehmer einer geteilten Erfahrung. Die Marketing-Maßnahme wird zum sozialen Erlebnis, das gemeinsame Laufen zur Markeninteraktion.
Die Inszenierungsgesellschaft: Wer braucht Netflix, wenn man Thermomix hat?
Der zweite bemerkenswerte Trend ist das, was die OMR-Redner als "Product Staging" bezeichnen – ein Begriff, der die Idee nahelegt, dass Produkte selbst zu Protagonisten einer Performance werden. Vorwerk inszeniert den neuen Thermomix nicht mehr nur als praktisches Küchengerät, sondern als Star einer theatralischen Aufführung, die User Generated Content provoziert und Medienaufmerksamkeit generiert.
Die subtile Botschaft dahinter: In einer Welt voller KI-generierter Inhalte wird das Echte, das Inszenierte, das bewusst Kreierte zum Differenzierungsmerkmal. Die Modenschau für den Autohersteller Brabus, die eine Milliarde Impressions erzielte, funktioniert nicht trotz, sondern wegen ihrer Extravaganz und physischen Präsenz.
Wir befinden uns in einem postdigitalen Zeitalter, in dem das physische Erlebnis zum ultimativen Luxusgut wird. Während Algorithmen uns mit endlosen Produktvorschlägen überhäufen, werden jene Marken erfolgreich sein, die uns aus der digitalen Parallelwelt zurück in die physische Realität holen – wenn auch nur für einen kurzen, instagrammablen Moment.
Die unsichtbare Gefahr: Wenn KI deine Marke verschluckt
Doch nicht alle können oder wollen den Weg zurück in die physische Welt antreten. Für digitale Brands zeichnen die OMR-Erkenntnisse ein beunruhigendes Bild: Die KI-Übersichten, die oberhalb der Suchresultate erscheinen, reduzieren die Website zum digitalen Relikt. "Bewegen wir uns auf eine Post-Traffic-Welt zu?", fragen die OMR-Redner – eine Frage, die existenzieller nicht sein könnte für ein Ökosystem, das auf Klicks und Seitenaufrufen basiert.
Die empfohlenen Gegenmaßnahmen klingen wie digitale Guerilla-Taktiken:
- Tägliche Sichtbarkeitsmanipulation: Ein ständiger Kampf gegen den Algorithmus.
- Crawler-Optimierung: Sicherstellen, dass KI-Systeme auch wirklich sehen, was man ihnen zeigen will.
- Medienerwähnungen generieren: Da KI-Systeme Quellen wie den "FAZ Kaufkompass" priorisieren, wird die Erwähnung in etablierten Medien zum neuen digitalen Gold.
Was hier stattfindet, ist nicht weniger als eine tektonische Verschiebung im Marketing-Gefüge: Wir optimieren nicht mehr für Menschen, sondern für die Algorithmen, die für Menschen entscheiden. Eine Meta-Ebene des Marketings, in der die eigentliche Zielgruppe in immer weitere Ferne rückt.
Europas Tech-Renaissance: Mehr als ein statistisches Kunststück?
Inmitten dieser digitalen Umwälzungen präsentiert OMR-Gründer Philipp Westermeyer einen überraschend optimistischen Blick auf die europäische Digitallandschaft. Während die "Magnificent 7" (GAFA plus Tesla, Microsoft und Nvidia) ihre Marktkapitalisierung von 12,5 auf 13,675 Billionen Euro steigerten, zeigt Europa unerwartete Vitalität.
Durch die Einbeziehung von SAP in die Betrachtung steigt der Wert der deutschen Digitalwirtschaft von 236 Milliarden auf beachtliche 350 Milliarden Euro – "nahezu an China dran", wie Westermeyer bemerkt. Ein statistischer Kunstgriff? Vielleicht. Doch Europa bringt tatsächlich globale Player hervor: Spotify in Schweden, den Payment-Dienstleister Adyen aus Holland und ASML, einen Chip-Produzenten für KI.
Was Europa laut Westermeyer fehlt, ist keine Innovationskraft, sondern eine "Unicorn-Maschine": In den USA werden mehr vielversprechende "braune Pferde" mit ausreichend Kapital versorgt, um zu Einhörnern heranzuwachsen. Die europäische Tech-Szene gleicht einem talentierten Nachwuchssportler, dem es nicht an Können, sondern an finanziellem Backing mangelt.
Überlebensstrategie im Post-KI-Marketing-Dschungel
Was bedeuten diese Erkenntnisse für Marketer im Jahr 2025? Wir befinden uns an einem historischen Wendepunkt – ähnlich jenem Moment, als die ersten Digitalagenturen entstanden und traditionelle Marketers kopfschüttelnd zusahen. Nur ist die Richtung diesmal umgekehrt: Der rein digitale Ansatz stößt an seine Grenzen, während physische Interaktion zum neuen Differenzierungsmerkmal wird.
Die Überlebensstrategie im Post-KI-Marketing-Dschungel liegt nicht in der Wahl zwischen digital und analog, sondern in deren intelligenter Verschränkung. Der Sunday Running Club wäre ohne digitale Plattformen wie Strava nicht organisierbar. Die theatralische Thermomix-Inszenierung entfaltet ihre volle Wirkung erst durch die virale Verbreitung in sozialen Medien.
Was wir erleben, ist kein Revival traditioneller Marketingformen, sondern die Geburt eines hybriden Modells – eines Modells, das die Effizienz digitaler Plattformen mit der Emotionalität physischer Erlebnisse verbindet. Die Zukunft des Marketings liegt weder im Rein-Digitalen noch im Rein-Analogen, sondern in deren kunstvoller Orchestrierung.
Die anthropologische Dimension: Warum wir wieder anfassbar werden wollen
Hinter all diesen Marketing-Trends steht eine fundamentale anthropologische Erkenntnis: Menschen sind und bleiben physische Wesen. Trotz aller digitalen Vernetzung sehnen wir uns nach realen Erlebnissen, nach Gemeinschaft, nach sinnlicher Erfahrung.
Die KI-Überflutung des Internets hat diese Sehnsucht nicht gestillt, sondern verstärkt. In einer Welt, in der wir nie sicher sein können, ob das Gegenüber ein Mensch oder ein Algorithmus ist, wird die unverkennbar menschliche Interaktion zum Differenzierungsmerkmal.
Vielleicht ist die größte Ironie der digitalen Revolution, dass sie uns letztlich zurückführt zu dem, was Marketing immer war und immer sein wird: die Kunst, Menschen zu bewegen – nicht nur metaphorisch in ihren Kaufentscheidungen, sondern ganz wörtlich in ihren physischen Handlungen.
Die OMR-Erkenntnisse zeigen uns nicht weniger als die Geburt eines post-digitalen Marketing-Zeitalters, in dem das Physische und das Digitale in symbiotischer Beziehung zueinander stehen. Denn wie immer gilt: Das Leben ist zu kurz, um nur in einer Realität zu existieren.
Bist du bereit für die Zukunft des post-digitalen Marketings? Falls nicht – The Digioneer bereitet dich darauf vor.