
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 2. Oktober 2025
Die Morgensonne fällt durch die Fenster des tewa am Karmelitermarkt, während ich meine erste Melange des Tages vor mir habe. Heute ist ein besonderer Tag – nicht wegen einer technologischen Disruption oder einer KI-Ankündigung, sondern aus einem viel persönlicheren Grund: Mein Vater wird neunzig Jahre alt.
Neunzig Jahre. Fast ein Jahrhundert menschlicher Existenz, die sich über Epochen erstreckt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Geboren in eine Welt, in der die Geräusche des Krieges den Alltag prägten, in der Zeit noch anders verging – langsamer, schwerer, aber vielleicht auch greifbarer. Eine Kindheit ohne Computer, ohne Internet, ohne die permanente Beschleunigung, die unsere Gegenwart definiert.
Als diagnostizierter Sozialphobiker habe ich viel Zeit damit verbracht, Generationen zu beobachten – ihre Rhythmen, ihre Perspektiven, ihre Art, die Welt zu begreifen. Und keine Generation fasziniert mich mehr als die meines Vaters. Sie überlebte das Schlimmste, was die Menschheit einander antun kann, und baute dennoch etwas auf. Sie erlebte den Übergang von der analogen zur digitalen Welt nicht als sanften Übergang, sondern als radikalen Bruch.
Das Paradox der goldenen Jahre
Wir sprechen oft von den "goldenen Jahren" – jener Zeit zwischen den 1960ern und 1990ern, als der Nachkriegswohlstand wuchs, als die Mittelschicht expandierte, als gesellschaftlicher Aufstieg noch eine realistische Hoffnung war. Mein Vater erlebte diese Zeit als Erwachsener, ich als Kind und Jugendlicher, meine Kinder nur noch als ferne Vergangenheit, gefiltert durch die nostalgischen Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern.
Aber waren es wirklich goldene Jahre? Oder erscheinen sie uns nur so im grellen Licht der Gegenwart, in der die Katastrophen sich häufen – Klimawandel, wiedererstarkte Autokratien, soziale Fragmentierung? Die Ironie dabei: Die "goldenen Jahre" waren auch die Jahre der größten ökologischen Sünden, der Grundsteinlegung für die Klimakatastrophe, die wir heute erleben.
Zwischen Individualität und Gemeinschaft
Das urbane Leben, die anonymen Strukturen moderner Gesellschaften – sie haben uns etwas gegeben und gleichzeitig etwas genommen. Mein Vater wuchs in einer Welt auf, in der jeder jeden kannte, in der Gemeinschaft keine Wahl war, sondern Schicksal. Eine erdrückende Enge für manche, aber auch eine Sicherheit, die wir verloren haben.
Wir haben so viel Individualität gewonnen – das Recht, unsere eigene Identität zu wählen, unseren eigenen Weg zu gehen, frei von den Zwängen der Herkunft. Aber wir haben vergessen, was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die über Likes und Follower hinausgeht. Wir haben die Freiheit gewählt und dabei die Verbundenheit verloren.
Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, sehe ich täglich diesen Widerspruch. Menschen, die die ultimative Freiheit suchen – mobil, ungebunden, flexibel – und dabei gleichzeitig nach Gemeinschaft, nach Zugehörigkeit, nach Verbindung suchen. Vielleicht ist das die tiefste Sehnsucht unserer Zeit: Die Quadratur des Kreises zwischen Individualität und Gemeinschaft.
Die paradoxe Hoffnung der Superintelligenz
Nun stehen wir am Rand einer weiteren Revolution – der Entwicklung von Künstlicher Superintelligenz. Die Technologieoptimisten versprechen uns eine Zukunft beispielloser Produktivität, in der Maschinen die Arbeit übernehmen und wir Menschen endlich Zeit haben für das, was wirklich zählt.
Eine paradoxe Hoffnung: Dass ausgerechnet die höchste Stufe technologischer Entwicklung uns zurückführen könnte zu einer Zeit, wie mein Vater sie in seiner Kindheit kannte – eine Zeit, in der das Leben langsamer verging, in der Muße keine Sünde war, in der Produktivität nicht das einzige Maß aller Dinge darstellte.
Vielleicht – und das ist eine vorsichtige, fast zaghafte Hoffnung – könnte die KI-Revolution das Tor zu einer neuen Form des Lebens öffnen. Nicht zurück in die Vergangenheit, sondern vorwärts in eine Zukunft, die von den Werten der Vergangenheit inspiriert ist. Eine Zukunft, in der wir nicht mehr getrieben sind von der Notwendigkeit permanenter Produktivitätssteigerung, weil die Maschinen diese Bürde übernommen haben.
Drei Generationen, drei Perspektiven
Mein Vater, neunzig Jahre alt, beobachtet die Welt mit der Gelassenheit dessen, der schon so viel gesehen hat. Er hat die Entbehrungen des Krieges überlebt, den Wiederaufbau miterlebt, die digitale Revolution aus der Distanz betrachtet. Für ihn ist die Gegenwart nur ein weiteres Kapitel in einer langen Geschichte menschlichen Wandels.
Ich selbst, zwischen den Generationen, bin Zeuge und Chronist dieser Transformation. Als digitaler Kaffeehausphilosoph beobachte ich, analysiere, schreibe – immer mit einem Bein in der analogen Vergangenheit und einem in der digitalen Zukunft. Meine Sozialphobie macht mich zum Außenseiter, aber genau diese Außenperspektive schärft den Blick.
Meine Kinder schließlich werden ihr ganzes Leben mit den Folgen der Entscheidungen leben müssen, die wir getroffen haben – oder nicht getroffen haben. Die Klimakatastrophe, die autoritären Tendenzen, die sozialen Verwerfungen – all das wird ihre Normalität sein. Eine schwere Last für junge Schultern.
Und doch – und hier liegt vielleicht die wichtigste Lektion – hat jede Generation ihre Herausforderungen gemeistert. Mein Vater überlebte den Krieg. Meine Generation navigiert die digitale Transformation. Meine Kinder werden Wege finden, mit der Klimakrise umzugehen. Menschen sind erstaunlich anpassungsfähig, erstaunlich resilient.
Happy Birthday, Dad
Es wird wohl schlimmer werden, bevor es besser wird. Diese nüchterne Einschätzung teile ich mit vielen meiner Generation. Die Klimakatastrophe wird eskalieren. Die autoritären Tendenzen werden zunehmen. Die sozialen Spannungen werden sich verschärfen. Das sind die Aussichten, mit denen meine Kinder leben müssen.
Aber – und hier kommt das große Aber – die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Krisen und ihrer Überwindung. Mein Vater ist der lebende Beweis dafür. Er überlebte nicht nur, er lebte. Er baute nicht nur auf, er schuf Schönheit. Er verzweifelte nicht, er fand Hoffnung.
Vielleicht ist das die wichtigste Lektion für die kommenden Zeiten: Nicht die naive Hoffnung, dass alles gut wird, sondern die trotzige Hoffnung, dass wir Wege finden werden, auch mit dem Schwierigen umzugehen. Dass wir in der Krise nicht nur überleben, sondern Menschlichkeit bewahren können.
Happy Birthday, Dad. Danke für neunzig Jahre Lebensweisheit. Danke für deine Liebe und Fürsorge. Danke für das Vorbild, wie man durch schwierige Zeiten navigiert ohne die Fähigkeit zu verlieren, das Leben zu genießen. Danke dafür, dass du uns gezeigt hast, dass ein selbstbestimmtes Leben ein erfülltes Leben ist – und dass Produktivität nicht der einzige Maßstab eines guten Lebens sein muss.
Während die KI-Revolution ihre Schatten vorauswirft und wir uns fragen, was die Zukunft bringen wird, ist es tröstlich zu wissen, dass es Menschen wie dich gibt – Menschen, die beweisen, dass ein erfülltes Leben möglich ist, auch wenn die Zeiten dunkel sind. Vielleicht sogar gerade dann.
Die nächste Generation wird ihren Weg finden müssen. Aber sie wird ihn mit dem Wissen gehen, das du und deine Generation uns gegeben habt: Dass Krisen überwunden werden können. Dass Gemeinschaft wichtiger ist als Individualität. Dass Langsamkeit manchmal weiser ist als Geschwindigkeit. Und dass ein Leben gut gelebt werden kann, auch wenn – oder gerade weil – es durch schwierige Zeiten führt.
In diesem Sinne: Auf die nächsten Jahre. Mögen sie dir Ruhe, Zufriedenheit und die Gewissheit schenken, dass du etwas Wertvolles weitergegeben hast – nicht nur Wissen, sondern Weisheit. Nicht nur Überleben, sondern Leben.
Phil Roosen schreibt diese Kolumne aus dem tewa in Gedanken an seinen Vater, der heute neunzig Jahre alt wird – und in Gedanken an alle, die durch schwierige Zeiten gingen und dabei nie vergaßen, was wirklich zählt. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.
P.S.: Die Generationen meiner Eltern, meine eigene und zumindest die Kindheit meiner Kinder haben vielleicht wirklich die goldenen Jahre erlebt. Aber vielleicht liegt die größte Goldene Zeit nicht hinter uns, sondern vor uns – wenn wir klug genug sind, aus der Geschichte zu lernen und die Zukunft mit den Werten der Vergangenheit zu gestalten.