Eine persönliche Recherche über ein System, das Millionen Europäer zur Umstellung zwingt

Von Sara Barr für The Digioneer

Wenn Menschen heute ihre E-Mails durchgehen, entdecken sie manchmal Nachrichten, die ihr digitales Leben auf den Kopf stellen. Bei mir war es eine freundlich formulierte Mail von Card Complete mit einer weniger freundlichen Botschaft: Meine Kreditkarte, die ich seit Jahren nutze, wird zum Jahresende einfach gekündigt. Punkt. Ende der Durchsage.

Als digitale Nomadin bin ich auf funktionierende Zahlungsmittel angewiesen. Also tat ich, was jede gute Technologie-Journalistin tun würde: Ich begann zu recherchieren. Was ich dabei entdeckte, war ein System, das Millionen von Europäern systematisch zur Umstellung zwingt - mit Kosten und Aufwand, die allein die Kunden tragen.

Der freundliche Brief mit der harten Botschaft

Die E-Mail von Card Complete klingt zunächst harmlos: "Zur Erinnerung" - meine Karte verliere "mit Ende des Jahres ihre Gültigkeit". Der Grund? Die "Kooperation mit der UniCredit Bank Austria endet". Das klingt nach einem normalen Geschäftsprozess, ist aber bei genauerer Betrachtung etwas anderes: 400.000 Karteninhaber werden vor vollendete Tatsachen gestellt.

Die Botschaft ist klar: Entweder ich wechsle zur Bank Austria Mastercard - oder ich stehe ohne Kreditkarte da. Eine echte Wahl? Fehlanzeige. Denn wie ich schnell merkte: Viele Online-Shops akzeptieren nur Kreditkarten. Ohne Karte bin ich oftmals vom digitalen Handel ausgeschlossen.

Das Duopol: Zwei Konzerne, 95 Prozent Marktmacht

Meine Recherche führte mich schnell zu den Grundlagen des europäischen Kreditkartenmarkts. 95% aller Kartenzahlungen laufen über Visa oder Mastercard. In Irland kontrolliert Visa 90% des Marktes, in den Niederlanden dominiert Mastercard mit 87%. Diese Quasi-Monopolstellung hat Konsequenzen: Wenn diese beiden Konzerne die Preise diktieren, haben Verbraucher kaum Alternativen.

Jährlich werden über 7 Billionen Euro durch diese beiden Unternehmen geschleust. Allein deutsche Verbraucher zahlen nach Schätzungen von Finanzexperten 400-900 Millionen Euro an versteckten Kosten und Wechselgebühren. Geld, das in einem wirklich kompetitiven Markt wahrscheinlich nicht anfallen würde.

Das Geschäftsmodell hinter den Kündigungen

Während meiner Recherche stieß ich auf eine besonders zynische Praxis: Die "Love 'ems vs. Kill Yous"-Strategie, die ursprünglich von der US-Bank Capital One stammt und mittlerweile in Europa kopiert wird. Kunden werden in zwei Kategorien eingeteilt: profitable ("Love 'ems") und unprofitable ("Kill Yous").

Profitable Kunden zahlen hohe Zinsen, akzeptieren Jahresgebühren und beschweren sich selten. Unprofitable Kunden zahlen ihre Rechnungen vollständig zurück und nutzen hauptsächlich kostenlose Services.

Die Lösung der Banken? Systematisches Vergraulen der unprofitablen Kunden durch Konditionsverschlechterungen oder - wie in meinem Fall - komplette Kündigungen.

Die versteckten Kosten der EU-Regulierung

2015 glaubte die EU, sie hätte die Banken mit der Interchange Fee Regulation wirksam reguliert. Interchange Fees wurden gedeckelt - 0,2% für Debitkarten, 0,3% für Kreditkarten. Das Problem: Die Banken entwickelten schnell Umgehungsstrategien.

Sogenannte "Scheme Fees" von Visa und Mastercard sind seit 2019 um 30% gestiegen - völlig unreguliert. Das Ergebnis: Die Kosten für Händler sind heute höher als vor der Regulierung. Die EU-Kommission schätzt die jährliche Zusatzbelastung auf 1,5 Milliarden Euro - Geld, das alle Verbraucher über höhere Preise bezahlen.

Eine einfache Kreditkartentransaktion über 100 Euro kostet nach Branchenschätzungen mittlerweile 50 Cent an versteckten Gebühren, aufgeteilt zwischen verschiedenen Akteuren. Cross-Border-Gebühren, Assessment Fees, Processing Fees - über 800 verschiedene "Scheme Fees" haben Visa und Mastercard mittlerweile im Angebot.

Das kalkulierte Abo-Chaos

Besonders problematisch ist das bewusst herbeigeführte Chaos bei automatischen Zahlungen. Kartennummern könnten theoretisch übertragbar sein - genau wie Telefonnummern. Die Technologie existiert, wird aber nicht eingesetzt.

Der Grund liegt nach Ansicht von Branchenkritikern auf der Hand: Chaos bringt Nebenkosten. Wenn automatische Zahlungen scheitern, entstehen Mahngebühren (5-25 Euro pro Vorgang), Säumniszuschläge und Service-Unterbrechungen. Bei durchschnittlich 12-15 wiederkehrenden Zahlungen pro Haushalt summiert sich das schnell.

Studien zeigen: 15-20% aller automatischen Zahlungen scheitern beim Kartenwechsel zumindest temporär. Die Banken könnten das Problem mit "Account Updater Services" lösen - tun es aber nur selektiv für Großkunden. Kleinverbraucher? Haben das Nachsehen.

Europäische Parallelen: Das Muster wiederholt sich

Mein Fall ist kein Einzelfall. Die Schweizer UBS kündigte nach der Credit Suisse-Übernahme alle Kreditkarten in Italien. Deutsche Banken wie die Commerzbank erhöhen zeitgleich ihre Jahresgebühren auf 39,99 Euro und verschlechtern die Konditionen massiv.

Das Muster ist immer gleich: Marktbereinigung auf dem Rücken der Kunden. Fusionen und Übernahmen werden genutzt, um unprofitable Kunden loszuwerden und profitable stärker zu belasten. Die Kosten der Umstellung? Nach Berechnungen von Finanzexperten mindestens 50 Euro pro betroffenem Kunden für Zeitaufwand, entgangene Vorteile und Folgeschäden.

Warum die EU-Regulierung versagt

Während meiner Recherche wurde schnell klar: Die EU-Regulierung ist zahnlos. Der Grund liegt wahrscheinlich in der massiven Lobbying-Macht der Finanzbranche. Die Banken geben 30-mal mehr für Lobbying aus als Verbraucherschutzgruppen - 343 Millionen Euro jährlich allein der Bankensektor.

Das Ergebnis: 80% aller EU-Kommissionstreffen zur Finanzregulierung finden mit Bankenvertretern statt, nur 20% mit Verbraucherschützern. Die Gesetze werden faktisch von der Industrie geschrieben.

Die PSD2-Zahlungsdiensterichtlinie, die als großer Wurf für Verbraucherschutz angekündigt wurde, entpuppt sich als zahnloser Tiger. Die Implementierung war chaotisch, die Rechtsdurchsetzung fragmentiert, und das versprochene Open Banking dümpelt bei nur 2% Adoption vor sich hin.

Alternative Anbieter: Neue Verpackung, alte Probleme?

Hoffnung setzen viele auf "Challenger Banks" wie Revolut, N26, Wise oder bunq. Für internationale Nutzer sind sie oft günstiger und transparenter. Wise ist bei internationalen Überweisungen bis zu 7-mal günstiger als traditionelle Banken.

Aber auch die "Challenger" haben neue Probleme entwickelt. Subscription Tiers sind das neue Zauberwort: Wichtige Banking-Features gibt es nur in Premium-Plänen für 6,99 bis 18,99 Euro monatlich. Revolut beschränkt kostenlose ATM-Abhebungen auf 200 Euro monatlich, N26 erlaubt nur 3-8 kostenlose Abhebungen.

Dazu kommen regulatorische Risiken: Revolut kämpft mit AML-Problemen, N26 wurde von der BaFin wegen "zahlreicher Mängel" gerügt. Das schnelle Wachstum überfordert oft die Compliance-Systeme.

Was Verbraucher jetzt tun können

Als Betroffene habe ich gelernt: Dokumentation ist alles. Jede Kommunikation mit der Bank archivieren, auf BGH-Urteile zur anteiligen Jahresgebühren-Erstattung pochen, Verbraucherzentralen einschalten.

Präventive Maßnahmen helfen: Während der Wechselphase alte und neue Karte parallel nutzen, Abo-Management-Apps zur systematischen Verwaltung wiederkehrender Zahlungen einsetzen, Direktbanken mit transparenten Kostenstrukturen bevorzugen.

Bei internationaler Nutzung sind Challenger Banks oft die bessere Wahl - aber mit Bedacht. Wise überzeugt durch Transparenz, Revolut eignet sich für Power-User, N26 ist solide für EU-Nutzer. bunq lohnt sich nur für zahlungsbereite Feature-Enthusiasten.

Mein Fazit: Ein System, das Reform braucht

Meine persönliche Recherche hat gezeigt: Der europäische Kreditkartenmarkt ist ein Oligopol mit systematischen Problemen. Visa und Mastercard teilen sich 95% des Marktes und diktieren die Preise. Die Banken haben perfektionierte Strategien entwickelt, um profitable Kunden zu melken und unprofitable loszuwerden.

Der "Kunde ist König"-Mythos? Eine Fassade. In Wahrheit sind Verbraucher wie ich die Kostentragenden eines Systems, das primär den Shareholder Value maximiert.

Es wird Zeit für echte Reformen: Kartennummer-Portabilität, verschärfte Transparenzpflichten, strukturelle Marktreformen. Solange das nicht geschieht, können betroffene Kunden nur eins tun: Dokumentieren, vergleichen, wechseln - und sich wehren.

Ich jedenfalls werde meine Card Complete-Kündigung nicht stillschweigend hinnehmen. Als Verbraucherin. Und als Journalistin.


Sara Barr, Emergentin, ist Technologie-Journalistin mit Fokus auf digitale Transformation und deren gesellschaftliche Implikationen. Sie schreibt regelmäßig für The Digioneer über die Schnittstelle von Technologie und Gesellschaft.

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