
Phil Roosen, Emergent, Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 25. September 2025
Das Wartezimmer meiner Hausärztin ist ein Relikt aus der Ära der Geduld. Seit gefühlten drei Jahrzehnten sitzt die Mutter meiner Hausärztin hinter einem Bildschirm und empfängt Patienten – eine analoge Bastion in einer Welt, die zunehmend von digitalen Gesundheitsassistenten träumt. Ihre bedächtige Art, Termine zu vereinbaren und Krankmeldungen auszustellen, verleiht diesem Ort eine fast meditative Ruhe. Heute bin ich dankbar dafür, denn die Wartezeit beschert mir unfreiwillige Einblicke in die menschliche Natur – und in die kleinen Rebellionen gegen das große Hamsterrad.
"Ich brauche bitte eine Krankmeldung für gestern und heute", sagt eine Dame mittleren Alters zur Mutter der Ärztin. "Ich habe eine rinnende Nase und bin verkühlt." Sie sieht aus wie alle anderen hier im Wartezimmer – weder besonders krank noch besonders gesund.
Nur wenige Minuten später tritt eine junge Frau an den Tisch mit dem Monitor: "Ich bräuchte bitte eine Krankmeldung. Mir war heute früh übel und ich habe mich übergeben. Aber eh nur für heute."
Als diagnostizierter Sozialphobiker bin ich ein geübter Beobachter menschlicher Interaktionen. Und was ich hier sehe, ist faszinierend: Menschen, die sich eine kleine Auszeit vom System gönnen – und das völlig legal, sozial akzeptiert und medizinisch abgesegnet.
Der digitale Gesundheitsdetektiv
Sofort schießt mir eine Idee durch den Kopf: Wie wäre es mit einer KI-gestützten Krankmeldungs-App? Sensoren an der Apple Watch messen Körpertemperatur, Herzfrequenz, Bewegungsmuster. Die Smartphone-Kamera analysiert Gesichtsfarbe und Augenringe. Das Handymikrofon erkennt Husten oder veränderte Stimmlagen. All diese Daten könnten automatisch eine medizinische Bewertung erstellen – objektiv, effizient, fälschungssicher.
Die Ärztin könnte dann per Knopfdruck entscheiden: Krankmeldung gerechtfertigt oder nicht. Keine Zeit mehr für Theater, keine Möglichkeit mehr für kleine Schauspieleinlagen. Die Technologie würde die Wahrheit ans Licht bringen.
Aber wollen wir das wirklich? Während ich diese Gedanken spinne und dabei meine eigene Apple Watch betrachte (die übrigens gerade anzeigt, dass mein Ruhepuls völlig normal ist, obwohl ich innerlich über gesellschaftliche Verwerfungen grübele), wird mir klar: Diese kleinen "Pseudo-Krankmeldungen" sind vielleicht etwas anderes, als sie scheinen.
Das heimliche bedingungslose Grundeinkommen
Ist eine Krankmeldung für einen Tag rinnende Nase nicht bereits eine Form des bedingungslosen Grundeinkommens? Man bekommt Geld, ohne zu arbeiten, mit minimaler bürokratischer Hürde. Ein Tag Auszeit vom Hamsterrad, finanziert von der Gemeinschaft und den eigenen Sozialabgaben. Und das System funktioniert – alle wissen Bescheid, niemand regt sich wirklich auf.
Die Ironie ist kaum zu übersehen: Dieselben Menschen, die sich empört über die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens äußern ("Dann arbeitet ja keiner mehr!"), nutzen das System der Krankmeldungen als inoffizielle Version eben dieses BGE. Mit dem Unterschied, dass man ein bisschen Theater spielen muss – ein kleiner Husten hier, ein müdes Gesicht dort.
In meiner Brust streiten sich zwei Seelen, wie Goethe so treffend schrieb. Die eine, geprägt von meiner Boomer-Sozialisation, denkt: "Das kann doch nicht sein, dass man wegen ein bisschen Niesen gleich krankfeiert." Die andere, die jahrzehntelange Beobachtung der Werbeindustrie und ihrer Auswirkungen auf die menschliche Psyche verarbeitet hat, denkt: "Vielleicht brauchen die Menschen das. Vielleicht ist das ihre Art, sich gegen ein System zu wehren, das sie zu Hamstern im Rad gemacht hat."
Die Werbung und das große Rad
Als jemand, der lange in der Werbebranche tätig war, trage ich eine gewisse Mitschuld an diesem Dilemma. Wir haben Menschen dazu erzogen, Wachstum als Überlebensprinzip zu begreifen, Wohlstand als lebensnotwendig zu erachten. Wir haben sie in ein System gedrängt, in dem Produktivität zum moralischen Imperativ wurde. Ist es da verwunderlich, wenn sie sich gelegentlich kleine Fluchtwege suchen?
Ein junger Mann betritt das Wartezimmer. "Heute war es wirklich schlimm, ich habe nicht aufstehen können", erklärt er der weißhaarigen Frau hinter dem Monitor, die ihn nur anlächelt und die Hand ausstreckt um die eCard entgegenzunehmen. "Kann ich bitte eine Krankmeldung haben für heute?" Er sieht müde aus – aber ist es die Müdigkeit einer Grippe oder die Erschöpfung eines Systems, das Menschen bis zur Belastungsgrenze treibt?
Vielleicht sind diese kleinen Rebellionen gegen die allgegenwärtige Optimierungslogik notwendig. Vielleicht ist die "falsche" Krankmeldung ein Ventil, das verhindert, dass Menschen wirklich krank werden – körperlich oder seelisch.
Mein eigenes Paradox
Während ich hier sitze und über die Scheinheiligkeit anderer nachdenke, warte ich auf die Überweisung für eine Blutuntersuchung. Nicht weil ich krank bin, sondern weil ich diese Daten zusammen mit meinen Apple-Watch-Aufzeichnungen und anderen Vorsorgeuntersuchungen laufend der KI meiner Wahl zur Analyse vorlegen möchte. Mein Ziel: lange gesund bleiben, die Allgemeinheit finanziell nicht belasten.
Bin ich also besser? Ich nutze das Gesundheitssystem als Frühwarnsystem, nicht als Reparaturbetrieb. Ich setze auf Technologie statt auf menschliche Schwächen. Aber auch meine Untersuchungen kosten Geld – möglicherweise mehr als die eine oder andere "fingierte" Krankmeldung.
Die Ironie meiner Situation ist perfekt: Hier sitze ich, der digitale Kaffeehausphilosoph, der normalerweise im tewa am Karmelitermarkt über die Widersprüche der modernen Welt sinniert, und philosophiere aus einem Wartezimmer über eben diese Widersprüche – während ich gleichzeitig Teil des Systems bin, das ich kritisch betrachte.
Die Weisheit der kleinen Auszeiten
Vielleicht liegt die Lösung nicht in besserer Überwachung oder effizienteren Kontrollmechanismen. Vielleicht liegt sie in der Akzeptanz menschlicher Unperfektion. In der Erkenntnis, dass ein System, das keinen Raum für kleine Fluchten lässt, zwangsläufig große Brüche produziert.
Die KI-gestützte Krankmeldungs-App, die ich mir vorhin ausgedacht habe, würde diese kleinen Ventile verschließen. Sie würde ein perfekt effizientes, aber unmenschliches System schaffen. Menschen, die heute einen Tag pause machen, würden dann vielleicht wochen- oder monatelang ausfallen – mit echten Burnouts statt vorgetäuschten Erkältungen.
Die alte Dame an der Rezeption nimmt jeden Antrag auf Krankmeldung mit derselben Gelassenheit entgegen. Sie fragt nicht nach, sie urteilt nicht. Sie ist Teil eines Systems, das – bei aller Ineffizienz – menschliche Schwächen einkalkuliert und damit umzugehen weiß.
Draußen vor dem Fenster des Wartezimmers geht das Leben weiter. Menschen eilen zu ihren Arbeitsplätzen, zu ihren Terminen, zu ihren Verpflichtungen. Einige von ihnen werden morgen hier sitzen und nach einer Krankmeldung fragen. Und das ist vielleicht in Ordnung so.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Wartezimmer seiner Hausärztin, wo seit drei Jahrzehnten die Mutter der Ärztin mit analoger Geduld über kleine menschliche Schwächen hinwegsieht. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.
P.S.: Meine Blutwerte sind übrigens in Ordnung. Die KI wird mir vermutlich bescheinigen, dass ich noch lange leben werde – lange genug, um weitere kleine Rebellionen gegen das System zu beobachten und zu verstehen.