
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 12. Juni 2025
Der Schatten meines Wohnmobils bietet willkommenen Schutz vor der Mittagssonne, die gnadenlos über den Klopeiner See brennt. Mein Espresso dampft auf dem kleinen Klapptisch, während ich über die sanften Hügel Kärntens blicke – eine grüne Landschaft, die in friedlicher Stille vor mir liegt. Ich campe hier - völlig verboten - in irgendeinem Wald, als wäre mein Dasein in diesem Moment eine kleine Rebellion gegen die Ordnung.
Zwei Tage sind vergangen seit der Tragödie von Graz, die elf junge Menschen das Leben kostete.
Bundeskanzler Stocker hat eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen, die Fahnen hängen auf halbmast, und gestern um 10 Uhr fand eine landesweite Schweigeminute statt. Hier am See herrscht eine andere Art der Stille – nicht die verordnete des Gedenkens, sondern die natürliche der Landschaft, die unberührt von menschlichen Tragödien ihren eigenen Zyklen folgt.
Es ist diese Parallelität, die mich heute beschäftigt – das seltsame Nebeneinander von offizieller Trauer und dem unaufhaltsamen Weiter der Normalität. Als diagnostizierter Sozialphobiker kenne ich das Gefühl, zwischen Welten zu stehen, aber was ich in den vergangenen zwei Tagen beobachtet habe, ist eine gesellschaftliche Schizophrenie: Wir sind alle betroffen, alle erschüttert, alle traurig – und doch gibt es nur für die wirklich Betroffenen jene Zeit außerhalb der Zeit, die echte Trauer braucht.
Ein Fischreiher landet am gegenüberliegenden Ufer, unbekümmert um menschliche Tragödien. Während ich ihm zusehe, wie er geduldig im seichten Wasser steht, denke ich an die Bilder auf meinem Smartphone: Die digitalen Kondolenzbücher füllen sich mit Nachrichten, zwischen Trauerbekundungen blitzen die üblichen Alltagsbilder auf – ein perfekt arrangiertes Frühstück, ein Selfie vor einem Café, ein Video von einer Katze. Das Leben als Content-Strom, in dem selbst die größten Tragödien nur einen weiteren Post darstellen, bevor der Algorithmus wieder zur Normalität übergeht.
Es ist nicht Herzlosigkeit, die ich hier beobachte. Es ist die strukturelle Unmöglichkeit unserer Gesellschaft, wirklich innezuhalten. Nach dem Motto "The show must go on" leben wir in einem System, das keine Pausen kennt, keine kollektiven Momente der Stille, keine gemeinsamen Räume für Trauer. Drei Tage Staatstrauer bedeuten nicht drei Tage Stillstand – sie bedeuten drei Tage Normalität mit halbmast gehissten Fahnen.
Ich frage mich, wann das begonnen hat. Als ich gestern Abend in meinem verbotenen Waldversteck saß und über die Hügel Kärntens blickte, kam mir ein Gespräch mit meiner Großmutter in den Sinn. Sie erzählte oft vom Tod ihres Vaters in den 1950er Jahren – wie das ganze Dorf für drei Tage stillstand, wie die Nachbarn schweigend Suppen brachten, wie selbst die Kinder wussten, dass jetzt eine Zeit der Stille war.
Diese kollektiven Rituale des Innehaltens sind verschwunden. Nicht weil wir weniger empathisch geworden wären, sondern weil unsere gesellschaftlichen Strukturen es nicht mehr zulassen. Die Globalisierung hat uns zu einem 24/7-System gemacht, in dem jeder Stillstand Produktivitätsverlust bedeutet. Die Digitalisierung hat uns in einen permanenten Informationsfluss eingebunden, der keine Pausen kennt. Die Individualisierung hat die kollektiven Räume aufgelöst, in denen gemeinsame Trauer möglich wäre.
Die traurige Ironie dabei: Während wir über die sozialen Medien binnen Minuten von jeder Tragödie erfahren, fehlen uns die sozialen Strukturen, um angemessen zu trauern. Wir sind alle informiert und gleichzeitig alle isoliert in unserer Betroffenheit.
Eine Libelle setzt sich auf den Rand meiner Espressotasse – ein kleiner Moment der Verbindung zur Natur, ein winziges Zeichen dafür, dass das Leben noch existiert jenseits der digitalen Nachrichtenströme.
Ein Spaziergänger mit seinem Hund passiert meinen illegalen Stellplatz und nickt freundlich – kein Tadel, nur ein stilles Verständnis für den Bedarf nach Rückzug. In den digitalen Kondolenzbüchern der Stadt Graz sammeln sich derweil die Beileidsbekundungen. Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus teilen ihren Schmerz und ihre Anteilnahme. Es ist bewegend und gleichzeitig symptomatisch: Wir haben gelernt, unsere Gefühle zu digitalisieren, zu standardisieren, zu teilen – aber haben wir noch gelernt, sie wirklich zu leben?
Die drei Tage Staatstrauer sind ein symbolischer Versuch, dieser Beschleunigung etwas entgegenzusetzen. Aber Symbole reichen nicht aus, wenn die Strukturen fehlen, die wirkliches Innehalten ermöglichen würden. Wir brauchen neue Rituale, neue gesellschaftliche Übereinkünfte darüber, wie wir mit kollektiver Trauer umgehen wollen.
Nicht jeden Tag können wir die Welt anhalten. Aber vielleicht könnten wir lernen, häufiger kleine Momente der Stille zu schaffen. Vielleicht könnten wir in den sozialen Medien nicht nur Betroffenheit posten, sondern auch wirklich aushalten, dass manche Dinge nicht kommentiert, nicht geteilt, nicht weiterverarbeitet werden müssen.
Die Kirchenglocken des nahen Dorfes läuten über den See – ein analoges Signal in einer digitalen Welt, das an etwas erinnert, was größer ist als wir selbst. Es ist ein Klang, der schon da war, bevor es Smartphones gab, und der hoffentlich noch da sein wird, wenn unsere digitalen Echokammern längst verstummt sind.
Die Familien in Graz, die ihre Kinder verloren haben, lebt in einer Zeit außerhalb der Zeit. Für sie ist die Welt wirklich stehengeblieben. Dass der Rest von uns weitermacht, ist vielleicht nicht nur Versagen, sondern auch Notwendigkeit. Aber dass wir so wenig Räume haben, um gemeinsam zu trauern, um zusammen stillzustehen, um kollektiv zu verarbeiten – das ist ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, die sich zivilisiert nennt.
Ich schließe die Augen und sende eine Nachricht ins Universum – nicht an einen Gott, an den ich nicht glaube, sondern an jenen Quantenraum der Möglichkeiten, der alle Verbindungen enthält. Eine stille Botschaft für die elf jungen Menschen in Graz und für alle anderen, die überall auf der Welt Opfer sinnloser Gewalt werden. Nicht weil es hilft, nicht weil es die Toten zurückbringt, sondern weil es das Mindeste ist, was ich hier und jetzt tun kann – und weil irgendwo in der Quantenwelt, der Verschränkung aller Dinge, vielleicht doch etwas ankommt von dem, was wir aussenden.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Schatten seines Wohnmobils am Klopeiner See, während Kärnten grün und friedlich um ihn liegt. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.