Kolumne “Digitale Zwischenräume” - The Digioneer, Donnerstag, 7. August 2025

Der Morgen bricht über der Donau an, und ich sitze vor meinem treuen Wohnmobil, mit einem dampfenden Kaffee in der Hand. Das Wasser fließt träge an mir vorbei – diese ewige, unerschöpfliche Kraft, die unsere Vorfahren schon vor Jahrhunderten zu nutzen wussten. Doch während ich hier am Ufer sitze und dem gleichmäßigen Murmeln des Stroms lausche, beschäftigt mich eine Frage, die mich nicht loslässt: Warum sprechen wir ständig von der fernen Zukunft der Wellenenergie, übersehen aber das ungenuzte Potenzial direkt vor unseren Füßen?

Die Zahlen sind beeindruckend, fast unwirklich: 30.000 Terawattstunden jährlich könnte die Wellenkraft der Meere theoretisch liefern – mehr als der gesamte weltweite Strombedarf. Die Meere tragen genug Energie in sich, um die Menschheit zu versorgen, und doch kämpfen wir noch immer mit den Kinderkrankheiten der Technologie.

Als diagnostizierter Sozialphobiker verbringe ich viel Zeit mit Recherche in der Stille meines mobilen Büros. Gestern Abend, als die Donau im Abendlicht glitzerte, stieß ich auf eine bemerkenswerte Meldung: CorPower Ocean hat mit ihrem C4 Wave Energy Converter vor der portugiesischen Küste einen Durchbruch erzielt. 18,5 Meter hohe Wellen während des Sturms Domingos – überstanden wie ein digitaler Fels in der Brandung. Eine 300 kW-Anlage, die sich wie eine moderne Windturbine an die Bedingungen anpassen kann.

Die große Ironie der Energiewende

Während die Welt auf diese spektakulären Meeresgewalten schaut, fließt hier vor mir die Donau vorbei – 2.850 Kilometer europäische Wasserstraße, die bereits 13.200 Gigawattstunden jährlich durch ihre österreichischen Kraftwerke erzeugt. 20% unserer Elektrizität, aus einer einzigen Wasserader. Und dennoch, während ich meine morgendliche Recherche fortsetze, entdecke ich ein merkwürdiges Versäumnis: Abseits der monumentalen Kraftwerke mit ihren 7,5 Meter durchmessenden Turbinen geschieht erstaunlich wenig.

Die österreichischen Donaukraftwerke sind Meisterwerke der Ingenieurskunst – keine Frage. Doch zwischen diesen Giganten und dem ungenutzten Flusslauf klafft eine Lücke, die mir als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, besonders ins Auge sticht. Wir, die wir mit unseren Wohnmobilen entlang der Donau reisen, sehen täglich das Potenzial kleinerer Lösungen.

Das Unternehmen powerfluxx zum Beispiel, seit über 25 Jahren in der Entwicklung von Strombojen tätig, hat etwas verstanden, was die große Energiepolitik übersieht: Die Donau fließt 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Ihre Strombojen mit 250 cm Rotordurchmesser können bei 3,3 m/s Strömung bis zu 70 kW pro Stück erzeugen. Eine große Boje versorgt damit im Idealfall 100 Haushalte.

Zwischen Träumen und Realitäten

Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier von “Größenphantasien” sprechen – diesem menschlichen Drang, immer das Spektakulärste anzustreben, während die pragmatischen Lösungen übersehen werden. Wir träumen von Wellenkraftwerken, die ganze Kontinente versorgen sollen, während die Donau vor unseren Augen noch in vielen Teilen ungenutzt vorbeiströmt.

Das EU-Projekt WEDUSEA plant das “weltweit leistungsstärkste Wellenkraftwerk” mit 1 MW vor der schottischen Küste. Imposant, zweifellos. Doch 500 Strombojen in der österreichischen Donau könnten 35 MW liefern – kontinuierlich, ohne die Launen des Wetters, ohne die Unberechenbarkeit der Meere.

Die Ironie verstärkt sich durch die aktuellen Klimadaten: Während Niedrigwasser und Trockenperioden die Schifffahrt beeinträchtigen, funktionieren kleine Turbinen auch bei reduzierten Wasserständen. Sie sind nicht nur effizienter bei niedrigen Geschwindigkeiten, sondern auch resilienter gegenüber den Extremwetterlagen, die der Klimawandel mit sich bringt.

Die digitale Parallele: Dezentralisierung als Schlüssel

Mein Blick schweift zu meinem Laptop, auf dem die Recherche-Ergebnisse leuchten. Es ist die gleiche Geschichte, die wir in der digitalen Welt erleben: Während wir von gigantischen Rechenzentren und Cloud-Infrastrukturen träumen, entdecken wir erst allmählich die Kraft der dezentralen Lösungen. Edge Computing, lokale KI, verteilte Netzwerke – überall kehrt sich der Trend zur Zentralisierung um.

Warum sollte die Energiewende anders sein? Das kanadische Unternehmen Idénergie hat eine 91 kg schwere Turbine entwickelt, die ohne Kran von zwei Personen installiert werden kann. Aquakin aus Fürth baut Linearkraftwerke für Flachwasser ab 20 cm Tiefe. Diese Technologien sind nicht spektakulär – sie sind besser. Sie sind pragmatisch, skalierbar, wartungsarm.

Die Donau bietet perfekte Bedingungen: durchschnittlich 1,5-2,5 m/s Strömungsgeschwindigkeit, vorhersagbare Wasserstände, bestehende Infrastruktur. Während CorPower Ocean noch immer mit den unberechenbaren Kräften des Atlantiks kämpft, könnte hier, in ruhigen Gewässern, bereits heute saubere Energie fließen.

Die übersehene Revolution

Als Sozialphobiker schätze ich die Stille der frühen Morgenstunden, wenn die Welt noch nicht vollständig erwacht ist. Es ist die Zeit der klarsten Gedanken, der unverstellten Beobachtungen. Und was ich hier beobachte, ist eine systematische Blindheit für das Naheliegende.

Die Aqua Libre-Strombojen wurden bereits in der Donau bei Weißenkirchen erprobt – ein Pilotprojekt, das zeigt: Es funktioniert. Die Technologie existiert, die Gewässer sind da, die Nachfrage ist vorhanden. Was fehlt, ist der politische Wille zur dezentralen Energieerzeugung.

Vielleicht liegt es an der Ästhetik des Spektakulären. Wellenkraftwerke in tosenden Meeren erzählen bessere Geschichten als bescheidene Strombojen in ruhigen Flüssen. Die mediale Aufmerksamkeit gilt den 18,5-Meter-Wellen vor Portugal, nicht den konstanten zwei Metern pro Sekunde hier an der Donau.

Doch Effizienz war noch nie spektakulär. Sie ist leise, beständig, oft unsichtbar – wie das kontinuierliche Rauschen des Wassers, das an meinem Wohnmobil vorbeiströmt, während ich diese Zeilen schreibe.

Die Kraft der kleinen Lösungen

Die Geschichte der Technologie ist voller verpasster Chancen, übersehener Potenziale, ignorierter Alternativen. Wir konzentrierten uns auf die Kernkraft und übersahen die Solarenergie. Wir träumten von Fusionsreaktoren und ignorierten die Windkraft. Jetzt träumen wir von Meeresenergie und übersehen die Flüsse.

Dabei zeigen gerade die jüngsten Entwicklungen in der Wellenkrafttechnologie, wie wichtig Anpassungsfähigkeit ist. CorPower Oceans C4-System kann sich “verstimmen” bei Extremwetter und “abstimmen” bei optimalen Bedingungen – genau diese Flexibilität bieten kleine Flusslaufwerksturbinen von Natur aus.

Die Donau verändert ihre Geschwindigkeit je nach Jahreszeit und Wetterlage, aber sie fließt immer. Kleine Turbinen können mit diesen Schwankungen umgehen, sich anpassen, efizient bleiben. Sie sind das aquatische Äquivalent zu Photovoltaik-Modulen – klein, dezentral, skalierbar.

Die Zukunft fließt vor uns vorbei

Während ich diese Kolumne beende, höre ich das erste Schiff des Tages die Donau hinunterfahren. Ein Container-Frachter, beladen mit Gütern aus ganz Europa, angetrieben von fossilen Brennstoffen, während unter ihm genug Energie fließt, um eine kleine Stadt zu versorgen.

Die wahre Energierevolution wird nicht in den spektakulären Wellengebirgen des Atlantiks stattfinden – sie wird in den stillen Gewässern unserer Flüsse beginnen. Mit Technologien, die heute bereits funktionieren, mit Lösungen, die pragmatisch statt spektakulär sind, mit einer Dezentralisierung, die Energie dorthin bringt, wo sie gebraucht wird.

500 Strombojen in der österreichischen Donau – das ist kein Traum, das ist ein realisierbares Projekt. Während wir auf die große Welle der Meeresenergie warten, fließt die Lösung direkt vor unseren Augen vorbei. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Kilowattstunde für Kilowattstunde.

Die Kraft der kleinen Turbinen liegt nicht in ihrer Größe, sondern in ihrer Allgegenwart. Wie die digitale Revolution, die nicht durch Supercomputer, sondern durch Millionen vernetzter Geräte entstanden ist. Die Energiewende der Zukunft wird dezentral sein – oder sie wird scheitern.

Der politische Auftrag unserer Zeit

Doch die größte Turbine nutzt nichts ohne den politischen Willen, sie zu installieren. Während der Stromverbrauch durch Wärmepumpen, Elektroautos und die digitale Transformation exponentiell steigt, während die Energiepreise Haushalte und Unternehmen belasten, ignoriert die Politik systematisch die dezentralen Lösungen vor der eigenen Haustür.

Es ist ein Versäumnis, das sich rächen wird. Die Strompreise erreichen Rekordhöhen, der Netzausbau kommt nicht hinterher, und gleichzeitig fließen täglich Gigawattstunden ungenutzter Energie durch unsere Flüsse. Während in Berlin und Brüssel über Milliardeninvestitionen in ferne Wasserstoffpipelines diskutiert wird, könnten kleine Flussturbinen bereits morgen sauberen, grundlastfähigen Strom liefern.

Die Politik muss endlich erkennen: Die Energiewende ist nicht nur eine Frage der richtigen Technologie, sondern des politischen Muts zur dezentralen Lösung. Genehmigungsverfahren für Strombojen dauern Jahre, während Gasimporte per Dekret beschlossen werden. Förderprogramme bevorzugen Großprojekte, während bewährte Kleintechnologien in regulatorischen Grauzonen verschwinden.

Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Zeit, dass die Politik die Flüsse nicht nur als Transportwege, sondern als Energiequellen begreift. Zeit für Programme, die kleine Wasserturbinen genauso fördern wie Solardächer. Zeit für eine Energiepolitik, die das Naheliegende nicht übersieht, während sie das Ferne verspricht.

Die Donau wartet nicht auf politische Entscheidungen – sie fließt einfach weiter. Die Frage ist nur: Wie lange noch, ohne dass wir ihre Kraft nutzen?

Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne vom Donauufer, wo sein Wohnmobil geparkt steht und das Wasser unaufhörlich vorbeiströmt – voller ungenutzter Energie. Seine Kolumne “Digitale Zwischenräume” erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

P.S.: Während ich diese Zeilen beende, berechne ich im Kopf: Eine einzige Stromboje vor meinem Wohnmobil könnte genug Energie für unseren gesamten mobilen Lebensstil liefern. Die Revolution hat schon begonnen – wir bemerken sie nur noch nicht.

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