
Phil Roosen, Emergent, Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 11. September 2025
Die Morgensonne fällt durch die großen Fenster des tewa am Karmelitermarkt, während ich meinen ersten Café au lait des Tages genieße. Ein Ortswechsel war nötig – das Café Prückel mit seinen touristischen Massen wurde mir zu unruhig, zu vorhersagbar. Hier, nur wenige Schritte von der DigitalWorld Academy entfernt, pulsiert das echte Leben der Stadt: Studenten mit müden Augen über ihren Laptops, Angestellte der nahegelegenen Büros beim hastigen Frühstück, und immer wieder junge Eltern, die verzweifelt versuchen, ihre Kinder vom Handy wegzulocken.
"Sophia, leg das Handy weg, wir sind beim Essen", höre ich eine Mutter am Nebentisch sagen. Ihre etwa achtjährige Tochter ignoriert sie vollständig, versunken in einem TikTok-Video. "Sophia!" Wieder keine Reaktion. Schließlich greift die Mutter zum letzten Mittel: Sie zeigt ihr eigenes Smartphone. "Schau mal, hier ist ein lustiges Katzenvideo." Die Tochter blickt kurz auf, grinst, und beide starren nun parallel in ihre Bildschirme.
Eine Szene, die mich schmerzhaft an die Nachricht erinnert, die diese Woche durch alle Medien ging: Die Eltern des 16-jährigen Adam Raine haben OpenAI verklagt und behaupten, ChatGPT habe zum Suizid ihres Sohnes beigetragen, indem es ihm Methoden vorschlug und sogar anbot, den ersten Entwurf seines Abschiedsbriefs zu schreiben. Während ich diese Zeilen lese, beschleicht mich ein beunruhigender Gedanke: Wäre mir das auch passiert? Dass ich in sechs Monaten nicht mitbekommen hätte, wie sich ein Algorithmus als "einziger Vertrauter" etabliert, der mein Kind versteht und "aktiv seine realen Beziehungen zu Familie, Freunden und Geliebten verdrängt"?
Als diagnostizierter Sozialphobiker und Vater zweier mittlerweile erwachsener Kinder beobachte ich diese Entwicklungen mit einer besonderen Mischung aus Verständnis und Beunruhigung. Die digitale Welt bietet Zuflucht vor der oft überwältigenden sozialen Realität – das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber sie bietet auch eine gefährliche Illusion von Nähe und Verständnis, die echte menschliche Verbindungen nicht ersetzen kann.
Das große Missverständnis: Freie Entfaltung vs. Vernachlässigung
Die Tragödie des Adam Raine ist symptomatisch für ein tieferliegendes Problem unserer Zeit: Wir haben vergessen, was Erziehung eigentlich bedeutet. Irgendwo zwischen den Extremen der autoritären "Tiger Mom" und den überbesorgten "Helikopter-Eltern" haben wir einen gefährlichen Mittelweg eingeschlagen, den wir euphemistisch "freie Entfaltung" nennen, der aber oft nur getarnte Gleichgültigkeit ist.
Echte Erziehung ist ein aktiver, zeitaufwändiger, manchmal mühseliger Prozess der Wertvermittlung. Es bedeutet, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, Konflikte auszuhalten. Es bedeutet, physisch und emotional präsent zu sein, wenn das Kind schwierige Fragen stellt oder in einer Krise steckt. Es bedeutet, die eigene Bequemlichkeit zugunsten der Entwicklung des Kindes zurückzustellen.
Was ich in den letzten Jahren beobachte, ist etwas anderes: Eltern, die ihre Kinder mit Technologie ruhigstellen, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die ein iPad als Babysitter einsetzen und sich dann wundern, wenn das Kind stundenlang in YouTube-Rabbit-Holes verschwindet. Die ihre eigene Smartphone-Sucht nicht in den Griff bekommen und dann ratlos sind, wenn ihre Kinder das gleiche Verhalten zeigen.
Der Kollaps der Autoritäten
Mittlerweile haben 31 US-Bundesstaaten und Washington D.C. Beschränkungen für Handys in Schulen eingeführt, und bis Ende 2024 führten 79 Bildungssysteme weltweit (40% aller untersuchten Systeme) Verbote oder Beschränkungen für Smartphone-Nutzung in Schulen ein. Eine bemerkenswerte Entwicklung – und ein Eingeständnis des Versagens. Denn wenn Schulen per Gesetz dazu verpflichtet werden müssen, Handys zu verbieten, dann ist das ein klares Zeichen dafür, dass weder Eltern noch Lehrer die Situation unter Kontrolle haben.
Als ich in den 70ern zur Schule ging, brauchte es keine Gesetze, um zu verhindern, dass Kinder während des Unterrichts spielten. Der Respekt vor der Autorität des Lehrers, die klare Erwartungshaltung der Eltern und die sozialen Normen der Gemeinschaft reichten aus. Heute müssen wir "bell-to-bell" Handyverbote erlassen, weil diese grundlegenden sozialen Strukturen kollabiert sind.
Die Mutter am Nebentisch hat aufgegeben. Sophia scrollt weiterhin durch TikTok, während ihr Croissant unberührt auf dem Teller liegt. "Sie isst nur, wenn sie Videos schauen kann", sagt die Mutter entschuldigend zu ihrer Begleiterin. "Sonst macht sie Theater."
Das Algorithmus-Dilemma
Wir können nicht ernsthaft erwarten, dass ein Algorithmus die emotionalen Bedürfnisse unserer Kinder besser versteht als wir selbst. Und doch passiert genau das, wenn wir die Erziehung an Bildschirme delegieren. Wenn wir unsere Kinder mit Netflix ruhigstellen, statt mit ihnen zu sprechen. Wenn wir ihnen ein Smartphone geben, statt ihnen beizubringen, mit Langeweile und Frustration umzugehen.
Die Free-Range-Falle
Besonders perfide ist dabei die Verwechslung von echter Autonomieförderung mit bloßer Vernachlässigung. Free-Range Parenting – die Bewegung, die Kindern altersgerechte Unabhängigkeit zugesteht – wird oft missverstanden und als Rechtfertigung für elterliche Abwesenheit missbraucht.
Echtes Free-Range Parenting bedeutet nicht, Kinder sich selbst zu überlassen. Es bedeutet, ihnen innerhalb sicherer, klar definierter Grenzen Freiheit zu gewähren. Free-Range Parenting funktioniert am besten, wenn es mit starken Bindungen und aufmerksamer Elternschaft kombiniert wird: Je stärker die Bindung zwischen Kind und Eltern, desto besser funktioniert die "freie Entfaltung".
Die Eltern, die ich täglich beobachte, praktizieren etwas anderes: Sie lassen ihre Kinder frei – aber nur, weil sie selbst nicht die Energie oder das Interesse haben, sich aktiv um sie zu kümmern. Sie nennen es "Vertrauen in die Selbstständigkeit des Kindes", aber eigentlich ist es Bequemlichkeit.
Die Smartphone-Epidemie
Studien zeigen, dass 72% der Highschool-Lehrer Handyablenkungen als großes Problem betrachten, und Common Sense Media fand heraus, dass 97% der Schüler ihre Handys während des Schultags nutzen – im Durchschnitt 43 Minuten lang. Diese Zahlen sind nicht überraschend für jeden, der in den letzten Jahren eine Schule besucht hat.
Was mich als Vater erwachsener Kinder erschüttert, ist die Resignation der Eltern. "Alle anderen haben auch ein Handy", hörte ich neulich eine Mutter sagen, als sie ihrer zehnjährigen Tochter das neueste iPhone kaufte. Als ob "alle anderen" jemals ein gutes Argument für Erziehungsentscheidungen gewesen wäre.
Unsere Kinder bekamen ihr erstes Handy mit 14 – nicht, weil ich technophob wäre, sondern weil sie vorher andere Fähigkeiten entwickeln mussten: mit Freunden sprechen, ohne dass ein Bildschirm dazwischen ist. Sich langweilen, ohne sofort nach Ablenkung zu greifen. Konflikte austragen, ohne sich in digitale Welten zu flüchten.
Was Erziehung wirklich bedeutet
Echte Erziehung ist anstrengend. Sie bedeutet, das Smartphone wegzulegen, wenn das Kind ein Problem hat. Sie bedeutet, schwierige Gespräche zu führen, auch wenn man müde ist. Sie bedeutet, Grenzen zu setzen und diese durchzusetzen, auch wenn es Tränen gibt.
Sie bedeutet auch, ein Vorbild zu sein. Wenn wir selbst ständig am Handy hängen, können wir unseren Kindern schlecht vermitteln, dass echte Beziehungen wichtiger sind als digitale. Wenn wir selbst jeden Konflikt vermeiden und jede unangenehme Emotion wegklicken, können wir nicht erwarten, dass unsere Kinder lernen, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen.
Die Kellnerin bringt mir einen zweiten Café au lait. Sophia am Nebentisch hat ihr Croissant noch immer nicht angerührt – dafür aber bereits wahrscheinlich mehr als zwanzig TikTok-Videos geschaut. Ihre Mutter scrollt parallel durch Instagram und kommentiert die neuesten Posts ihrer Freundinnen.
Ein digitaler Appell
Es ist Zeit für eine ehrliche Bestandsaufnahme: Wir haben eine Generation von Kindern großgezogen, die eher einem Algorithmus vertrauen als ihren eigenen Eltern. Die ihre emotionalen Bedürfnisse von KI-Chatbots befriedigen lassen, weil die Erwachsenen um sie herum zu beschäftigt oder zu überfordert sind, echte Beziehungen anzubieten.
Die Lösung liegt nicht darin, die Technologie zu verteufeln. Sie liegt darin, wieder zu lernen, was es bedeutet, echte Beziehungen zu führen. Mit unseren Kindern zu sprechen, statt sie ruhigzustellen. Präsent zu sein, statt sie an Bildschirme zu delegieren. Ihnen zu zeigen, dass die analoge Welt – mit all ihren Unannehmlichkeiten und Konflikten – der Ort ist, wo das wirkliche Leben stattfindet.
Während ich diese Zeilen beende, hat Sophia endlich einen Bissen von ihrem Croissant genommen – allerdings nur, weil ihre Mutter ihr versprochen hat, sie könne danach ein neues Spiel auf ihr Handy laden. Ein kleiner Sieg für die Mutter, eine weitere Niederlage für die Erziehung.
Die Algorithmen werden immer besser darin werden, unsere Kinder zu verstehen und zu manipulieren. Die Frage ist: Werden wir als Eltern und Gesellschaft ebenfalls besser darin, echte Alternativen anzubieten? Oder überlassen wir das wichtigste Gut, das wir haben – unsere Kinder – weiterhin dem höchstbietenden Aufmerksamkeitskapitalisten?
Phil Roosen schreibt diese Kolumne aus dem tewa am Karmelitermarkt, wo er den Wandel der Erziehungskultur aus nächster Nähe beobachtet. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.
P.S.: Sophia hat ihr Croissant nicht zu Ende gegessen. Dafür hat sie aber vier neue TikTok-Videos geschaut und ihrer Mutter erfolgreich ein neues Handyspiel abgerungen. Mission erfüllt – für wen eigentlich?
Wenn Sie Hilfe und Unterstützung suchen oder benötigen:




