
Michael Kainz ist Herausgeber von The Digioneer
Es ist 9 Uhr morgens, und ChatGPT schreibt gerade deine E-Mails. Midjourney designt deine Präsentation. Ein KI-Agent bucht deinen Flug und bestellt das Mittagessen. Du lehnst dich zurück und fragst dich: Warum fühlt sich das nicht nach Befreiung an, sondern nach Leere?
Dario Amodei, CEO von Anthropic, hat eine einfache Antwort: 20% Arbeitslosigkeit bis 2030. Seine Lösung? Eine Steuer auf jede KI-Unterhaltung – jedes Gespräch mit ChatGPT, Claude oder Gemini soll Geld kosten. Was klingt wie Science-Fiction, ist die bittere Realität einer Revolution, die anders verlaufen ist als versprochen.
Der Glamour der Zukunft ist tot – und wir haben ihn getötet
Erinnerst du dich an die Aufbruchsstimmung der frühen 2020er Jahre? KI sollte uns von stupider Routine befreien, unsere Kreativität entfesseln, eine neue Ära menschlicher Blüte einläuten. Genau wie die Weltausstellungen des 20. Jahrhunderts versprachen auch die Tech-Visionäre eine glamouröse Zukunft – einen Ort der Transformation und des Aufbruchs.
Doch heute, nur wenige Jahre später, herrscht Ernüchterung. Die KI-Revolution hat stattgefunden – aber sie fühlt sich verdammt gewöhnlich an.
Die Kulturkritikerin Virginia Postrel beschreibt ein ähnliches Phänomen aus dem 20. Jahrhundert: Wie der Glamour des Fortschritts verschwand, sobald die Zukunft zur Realität wurde. "Wenn du diesen Kühlschrank endlich hast, ist er nicht mehr glamourös – er ist einfach nur Leben." Heute erleben wir das KI-Äquivalent: ChatGPT ist nicht mehr magisch, sondern Alltag.
Die drei Gesichter der KI-Enttäuschung
Erste Ernüchterung: Die Effizienz-Lüge Die Produktivitätsgurus versprachen uns die ultimative Rationalisierung. Stattdessen bekamen wir neue Komplexitäten: Prompt-Engineering, KI-Halluzinationen, die Notwendigkeit, Maschinen zu überwachen, die eigentlich uns überwachen sollten. Eine McKinsey-Studie von 2024 zeigt: 67% der Unternehmen, die KI eingeführt haben, berichten von gestiegenen, nicht gesunkenen Verwaltungskosten.
Zweite Ernüchterung: Die Kreativitäts-Falle Warum jahrelang Programmieren lernen, wenn GPT-4 in Sekunden funktionierenden Code schreibt? Eine Umfrage der American Graphics Association zeigt: 28% der Design-Studierenden haben ihr Studium abgebrochen – sie sehen ihre Fähigkeiten als obsolet an. Die Technologie, die sie begeistern sollte, macht sie selbst überflüssig.
Dritte Ernüchterung: Die Alltags-Abhängigkeit Ja, ChatGPT kann deine E-Mails formulieren. Aber anstatt Befreiung fühlst du Abhängigkeit von Systemen, die du weder verstehst noch kontrollierst. Du bist nicht freier geworden – du bist fremdbestimmter.
Amodeis Warnung: Die KI-Steuer als Notsignal
Wenn der CEO von Anthropic – einem der KI-Pioniere – eine Steuer auf KI-Unterhaltungen fordert, ist das mehr als fiskalpolitische Theorie. Es ist ein Eingeständnis des Scheiterns.
Die KI-Steuer würde jede Interaktion mit ChatGPT, Claude oder Gemini kostenpflichtig machen. Nicht aus Profitgier, sondern weil die "kostenlosen" Dienste versteckte gesellschaftliche Kosten verursachen: Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, die Erosion menschlicher Fähigkeiten.
Amodeis Prognose von 20% Arbeitslosigkeit bis 2030 ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Das wahre Problem liegt tiefer: Arbeit ist mehr als Broterwerb – sie ist Identitätsstiftung, sozialer Zusammenhalt, Sinngebung. Wenn KI diese Funktionen übernimmt, ohne adäquaten Ersatz zu bieten, entsteht ein gesellschaftliches Vakuum.
Die neue Sehnsucht: Zurück zum Echten
Nicht zufällig erleben wir parallel zur KI-Revolution einen Boom des Handwerklichen. Kochkurse, Töpferkurse, sogar Schmiedekurse – Menschen wollen wieder spüren, dass sie etwas bewirken können. Mit ihren eigenen Händen. Ihrem eigenen Verstand. Ihrer eigenen Kreativität.
Elizabeth Kronfield, Direktorin der School for American Crafts, bringt es auf den Punkt: "Es sind alles Dinge, die uns unsere Hände benutzen lassen, uns Werkzeuge verwenden lassen, uns etwas meistern lassen, das uns anfangs unmöglich erscheint."
Die Ironie ist perfekt: Je intelligenter unsere Maschinen werden, desto mehr sehnen wir uns nach "dummer" menschlicher Arbeit.
Der Weg aus der KI-Falle: Pluralistische Zukünfte
Die Lösung liegt nicht in der Ablehnung der KI, sondern in einer pluralistischeren Vision des Fortschritts. Stell dir vor:
- Manche Menschen leben in vollautomatisierten Umgebungen, in der KI alle Routineaufgaben übernimmt
- Andere wählen bewusst handwerkliche Tätigkeiten – analog zu den Amish, aber mit Internetanschluss
- Wieder andere entwickeln hybride Modelle, in denen menschliche und künstliche Intelligenz zusammenarbeiten
Die KI-Steuer könnte genau das ermöglichen. Indem sie die wahren Kosten der KI-Nutzung sichtbar macht, schafft sie Raum für alternative Ansätze. Sie macht "menschliche" Arbeit wieder wettbewerbsfähig, ohne Technologie zu verteufeln.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag für das KI-Zeitalter
Amodeis Vorschlag ist letztendlich der Versuch, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu formulieren. Wenn KI tatsächlich 20% der Arbeitsplätze obsolet macht, brauchen wir Mechanismen, um den entstehenden Wohlstand gerecht zu verteilen.
Eine KI-Steuer wäre eine Automatisierungsdividende – sie sorgt dafür, dass die Produktivitätsgewinne der KI der gesamten Gesellschaft zugutekommen, nicht nur den Eigentümern der Algorithmen.
Aber mehr noch: Sie wäre der Startschuss für eine bewusstere, demokratischere Gestaltung unserer technologischen Zukunft. Statt passiv zuzuschauen, wie Tech-Konzerne unsere Lebenswelt umgestalten, würden wir aktiv entscheiden, welche Rolle KI in unserer Gesellschaft spielen soll.
Die Rückkehr des Glamours: Nicht perfekt, sondern menschlich
Die Zukunft wird nicht wieder glamourös, indem wir sie perfekt machen. Sie wird glamourös, indem wir sie menschlich halten – mit all den Widersprüchen, Unvollkommenheiten und ungeplanten Möglichkeiten, die das Menschsein ausmachen.
Eine neue, glamouröse Vision der Zukunft muss Raum schaffen für alle menschlichen Bedürfnisse: den Wunsch nach Kreativität ebenso wie nach Sicherheit, nach Gemeinschaft ebenso wie nach Autonomie, nach Herausforderung ebenso wie nach Entspannung.
Vielleicht liegt darin die wahre Revolution: Nicht die Erschaffung einer perfekten Welt, sondern die Ermöglichung vieler verschiedener Welten. Eine Zukunft, in der KI-Steuer und handwerkliche Arbeit, Automation und menschliche Kreativität koexistieren können.
Was meinst du: Würdest du eine KI-Steuer zahlen, um deine menschliche Arbeit zu schützen? Diskutiere mit uns in den Kommentaren – noch sind es deine eigenen Gedanken.
Dieser Essay erschien in The Digioneer im Rahmen unserer Serie über die digitale Transformation und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen.