
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 22. Mai 2025
Der Mai ist die Zeit des Aufbruchs und der Fülle. Doch während die Schönbrunner Kastanien im Stadtpark ihre Kerzen zum Himmel strecken, habe ich gestern auf meinem Tablet einen beunruhigenden Artikel im Online-Magazin "Die Republik" gelesen. Er zeigt eine Entwicklung, die mich seither nicht mehr loslässt: Allein im vergangenen Jahr haben 110 Schweizer Journalistinnen und Journalisten ihren Beruf an den Nagel gehängt. 110 Stimmen, die verstummt sind. 110 kritische Geister, die nicht mehr fragen, bohren, zweifeln.
Die Zahlen, die das Schweizer Qualitätsmedium recherchiert hat, sind ernüchternd. Laut einer dort zitierten ZHAW-Studie denken 43 Prozent der befragten Medienschaffenden mindestens monatlich über einen Berufsausstieg nach. 39 Prozent sind in Sorge, ihren Job im Verlauf der nächsten zwölf Monate zu verlieren. Und 60 Prozent – man lese und staune – bangen um die journalistische Qualität.
Als diagnostizierter Sozialphobiker sollte mir der Gedanke an menschenleere Redaktionen eigentlich gefallen. Weniger Stimmengewirr, weniger dieser unangenehmen Momente beim Kaffeeholen, wenn man zwischen Small Talk und höflichem Nicken abwägen muss. Doch selbst ich empfinde einen Stich angesichts dieser stillen Kapitulation.
"Die Verlage werden jeden Produktionsschritt automatisieren, der sich automatisieren lässt", wird ein Studienleiter zitiert. "Es steht außer Frage, dass dies zu einem massiven Personalabbau führen wird." Die Aussichten sind düster: Gefährdet scheinen zurzeit weniger recherchierende Journalisten als Mitarbeitende, die – von außen oft unsichtbar – das Fundament für deren Arbeit legen: Layouterinnen, Produzenten, Korrektorinnen, Fotoredakteure, Suchmaschinenoptimiererinnen, Übersetzer.
Das Perfide an dieser Entwicklung: Sie vollzieht sich nahezu geräuschlos. Kein Aufschrei, kein kollektiver Widerstand. Stattdessen dieses resignierte Achselzucken, dieses "Wo soll ich mich denn bewerben? Es ist doch überall das Gleiche!", das immer mehr Kolleginnen und Kollegen von sich geben.
Am Nachbartisch spricht ein älterer Herr mit seiner Begleiterin über den Ruhestand seines Hausarztes. "Vierzig Jahre war er für mich da, kannte mich besser als ich selbst", höre ich ihn seufzen. Es ist dieselbe Wehmut, die mich beschleicht, wenn ich an die verschwindenden Lokalredaktionen denke, an die Zeitungen, die ihre Büros in den Gemeinden schließen, an die Reporter, die nicht mehr in die Provinz fahren, um der Verwaltung auf die Finger zu schauen.
Gleichzeitig beobachte ich an meinem anderen Nachbartisch ein junges Paar, beide tief versunken in ihre Smartphones, beide vermutlich Konsumenten jener algorithmisch optimierten Nachrichtenströme, die uns vorgaukeln, wir seien informiert, während sie uns in Wahrheit nur in unseren Vorurteilen bestätigen. Ich frage mich: Werden sie bemerken, wenn die letzten kritischen Stimmen verstummt sind? Werden sie den Unterschied spüren zwischen einem von Menschen recherchierten Artikel und dem eloquenten Rauschen einer KI?
"In vielen Fällen werden sie die Artikel nicht mehr selbst schreiben. Sondern lediglich kontrollieren, dass der KI keine Fehler unterlaufen sind," wird ein Digitalberater in dem Artikel zitiert. Diese Vision eines journalistischen Faktencheckers reduziert die komplexe Rolle des Journalisten auf eine Kontrollfunktion – und verkennt dabei das Wesen des guten Journalismus.
Denn Journalismus war nie nur das Zusammenstellen von Fakten. Es war immer auch ein Akt der Interpretation, der Einordnung, der Kontextualisierung. Es war das beharrliche Nachfragen, wenn die erste Antwort nicht befriedigte. Es war der Blick für das Detail, das nicht ins Bild passt. Es war die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, wenn ein Interviewpartner plötzlich nervös mit seinem Armband spielt.
Meine eigene Begeisterung für digitale Technologien – diese seltsame Leidenschaft eines analog sozialisierten Boomers für die binäre Welt – kollidiert hier mit einer tiefen Skepsis. Denn ich sehe die Gefahr, dass wir mit der Automatisierung des Journalismus nicht nur Arbeitsplätze verlieren, sondern etwas viel Grundlegenderes: die kritische Instanz, die das Funktionieren einer Demokratie erst ermöglicht.
Bezeichnenderweise finden viele dieser entlassenen oder freiwillig ausgestiegenen Journalistinnen und Journalisten neue Jobs in der Unternehmenskommunikation, in der PR, im Marketing. Sie werden von Fragestellern zu Antwortgebern, von Skeptikern zu Überzeugten. Ihre kritische Perspektive wird durch eine affirmative ersetzt. Auch das ein Verlust für die öffentliche Debatte.
Was besonders beunruhigend ist: Während die erfahrenen Kräfte die Branche verlassen, schlägt immer weniger Nachwuchs eine journalistische Laufbahn ein. Am Institut für Journalismus und Kommunikation MAZ in Luzern, der angesehensten Ausbildungsstätte der Deutschschweiz, nahmen Anfang April 25 Journalismus-Abgänger ihr Diplom entgegen. 2018 waren es noch 44 gewesen.
Der Kellner bringt mir eine zweiten Melange. Er kennt meine Gewohnheiten, ein kleines menschliches Detail in einer zunehmend automatisierten Welt. Diese Form der personalisierten Dienstleistung, dieses Eingehen auf individuelle Bedürfnisse ohne explizite Aufforderung – es ist genau das, was wir im Journalismus zu verlieren drohen: den Blick für das Besondere, das Unerwartete, das nicht Algorithmen-Konforme.
Bei aller notwendigen Kritik und Wachsamkeit dürfen wir aber nicht vergessen: Als Werkzeug in den richtigen Händen kann KI den Journalismus tatsächlich bereichern – wenn wir es nicht zulassen, dass sie ihn ersetzt. Sie kann uns helfen, große Datenmengen zu analysieren, Muster zu erkennen, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Sie kann Routineaufgaben übernehmen und so Kapazitäten freisetzen für das, was nur Menschen können: zuhören, nachfragen, zweifeln, einordnen.
Das MERGED-Konzept (Machine Learning Enhanced Reporting with Guided Expert Development), das wir bei The Digioneer entwickeln, basiert genau auf diesem Gedanken. Es geht nicht darum, Journalisten zu ersetzen, sondern ihre Fähigkeiten zu erweitern und zu komplementieren. Die KI recherchiert Hintergrundinformationen, während der Journalist im Feld ist. Sie analysiert große Datensätze, während der Mensch die zwischenmenschlichen Nuancen erfasst. Sie formuliert erste Entwürfe, während der Redakteur seine Energie auf die kritische Analyse und ethische Einordnung konzentriert.
Leider zeigen die realen Entwicklungen in vielen Verlagen in eine ganz andere Richtung. Dort verkommt KI allzu oft zum reinen Einsparinstrument. Der angestrebte Effizienzgewinn führt nicht zu mehr Tiefe und Qualität im Journalismus, sondern zu einem weiteren Abbau von Stellen und Ressourcen.
Im Gegensatz zur nostalgischen Verklärung vergangener Zeiten bin ich durchaus bereit, die Potenziale der Digitalisierung zu sehen. Als jemand, der zwischen analoger Tradition und digitaler Innovation pendelt, kann ich den Wandel sogar als spannend empfinden. Aber ich bestehe darauf, dass wir ihn gestalten – und nicht nur erleiden.
Ein Gedanke, der mir nicht loslässt: Werden wir eines Tages mit Wehmut an jene Zeit zurückdenken, als kritische Journalist:innen noch bohrende Fragen stellten? Werden wir ein vages Unbehagen spüren, wenn wir die glattpolierten, faktisch korrekten, aber seltsam leblosen Texte lesen, die unsere Newsfeeds füllen? Werden wir den Unterschied überhaupt noch bemerken?
Draußen auf der Ringstraße zieht eine Straßenbahn vorbei. Ein alltägliches Bild, das mich an eine wesentliche Qualität des Journalismus erinnert: seine Verankerung im Hier und Jetzt, im konkreten Leben der Stadt, in der physischen Präsenz des Reporters vor Ort. Kein noch so ausgefeilter Algorithmus kann die Unmittelbarkeit dieser Erfahrung ersetzen – die feuchte Morgenluft, das Klirren der Tassen im Café, das gedämpfte Gemurmel der anderen Gäste.
Der Journalismus der Zukunft wird nicht vom Verschwinden des Menschen geprägt sein, sondern von seiner Neuerfindung. Vom Umdenken dessen, was es bedeutet, ein Journalist zu sein in einer Welt, in der Informationen im Überfluss vorhanden sind, Orientierung aber zur Mangelware wird.
Das eigentliche Problem ist nicht die KI. Das Problem ist, dass wir in einer Branche arbeiten, die seit Jahren in einer Vertrauens- und Wirtschaftskrise steckt. Der Exodus der Journalist:innen ist kein Phänomen der letzten Monate – er ist die logische Folge einer Entwicklung, die seit Jahren andauert. Die KI beschleunigt lediglich, was längst in Gang gesetzt wurde.
Wenn jene, denen wir einst vertrauten, uns die Welt zu erklären, einer nach dem anderen das Handtuch werfen – was sagt das über den Wert aus, den wir kritischem Denken und unabhängiger Berichterstattung beimessen? Wenn wir zulassen, dass die Stimmen verstummen, die Machtmissbrauch aufdecken, die Fakten von Fiktion trennen, die komplexe Zusammenhänge erklären – was bedeutet das für unsere Demokratie?
Die Zukunft des Journalismus liegt nicht in der technischen Perfektion, sondern in seinem menschlichen Kern: in der Fähigkeit, zu fragen, zu zweifeln, zu hinterfragen, einzuordnen. Das können wir nicht an Algorithmen delegieren, ohne etwas Wesentliches zu verlieren.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns als Gesellschaft fragen, was uns unabhängiger Journalismus wert ist. Dass wir anerkennen, dass kritische Berichterstattung ihren Preis hat – und dass dieser Preis weit geringer ist als die Kosten ihres Verlusts für unsere Demokratie.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Prückel, wo der Kellner ihn besser kennt als jeder Algorithmus. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.