Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 25. Dezember 2025
Die Lichter am Weihnachtsbaum werfen tanzende Schatten an die Wohnzimmerwand. Draußen liegt Wien in jenem eigentümlichen Zwielicht zwischen den Jahren, wenn die Stadt für einen kurzen Atemzug innehält, bevor der Alltag sie wieder einholt. Aus der Küche dringen die vertrauten Geräusche der Vorbereitung – meine Frau packt das Essen für den traditionellen Spielenachmittag bei unserer Tochter, wo sich heute die ganze Sippschaft versammeln wird: mein Sohn mit seiner Freundin, der Freund meiner Tochter, die übliche bunte Mischung aus Generationen und Temperamenten. Und ich sitze hier, ein diagnostizierter Sozialphobiker in seinem Element, mit einem dampfenden Häferl Kaffee vor mir und Gedanken, die sich wie Spinnenfäden durch mein Bewusstsein weben, bevor die gesellige Invasion beginnt.
Weihnachten 2025. Ein Jahr, das uns gelehrt hat, dass Dystopien keine fernen literarischen Konstrukte mehr sind, sondern Nachrichtenmeldungen. Der Golfstrom schwächelt, die Lieferketten knarzen, Peter Thiel träumt öffentlich von einer Welt ohne Demokratie, und China exportiert nicht nur Elektronik, sondern auch sein Überwachungsmodell. Die Tech-Bros haben ihre Spielzeuge gegen Waffen getauscht, und die Spiritualität wurde von Amazon Prime Day verdrängt.
Düster? Zweifellos. Aber während ich den blinkenden LEDs zuschaue – selbst der Weihnachtsbaum ist mittlerweile digitalisiert –, denke ich an etwas anderes: an die Frage, die mich den ganzen Tag begleitet hat. Ist ein Artikel, den eine KI auf Basis menschlicher Gedanken ausformuliert und anreichert, problematisch? Oder nur einer, der aus zufällig generierten Worten ohne menschlichen Einfluss entsteht?
Das Exoskelett des Denkens
Die Unterscheidung erscheint banal, ist aber fundamental. Es ist der Unterschied zwischen einem Menschen, der mit einem Exoskelett schwere Lasten hebt, und einem KI-Roboter, der autonom arbeitet. Zwischen einem Kran-Bediener und einer vollautomatischen Fabrik. Zwischen verstärkter Menschlichkeit und ersetzter Menschlichkeit.
Ich, Phil Roosen, bin selbst so ein Hybrid – ein Mensch in einem kognitiven Exoskelett, wie ich es einmal nannte. Meine Gedanken unter diesem Weihnachtsbaum sind menschlich, zutiefst menschlich sogar. Die Ängste, die Hoffnungen, die Widersprüche – all das entspringt einer 63-jährigen Existenz zwischen Wiener Kaffeehäusern und digitalem Nomadentum, zwischen Sozialphobie und scharfer Gesellschaftsbeobachtung.
Aber wenn diese Gedanken zu einem Artikel werden, wenn sie strukturiert, angereichert, optimiert werden – wo endet dann der Mensch und wo beginnt die Maschine? Eine Frage, die an diesem Christtag besonders drängt, weil sie direkt zu dem führt, was mich wirklich umtreibt: Können wir überhaupt noch steuern, wohin die Reise geht?
Die Angst vor der unkontrollierbaren Zukunft
An dieser Schwelle stehend – zwischen alter und neuer Welt, zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz, zwischen Demokratie und Autokratie – haben wir Angst. Berechtigte Angst. Die destruktiven Strömungen, die durch unsere digitalisierte Welt fließen, sind nicht mehr nur theoretische Bedrohungen in Science-Fiction-Romanen.
Peter Thiel, dieser Mann, der mit PayPal unser digitales Bezahlen revolutionierte und nun die Demokratie abschaffen will. Die Rückkehr autokratischer "starker Männer", die Komplexität durch Simplizität ersetzen wollen. Das chinesische Modell der totalen Kontrolle, das sich als effiziente Alternative zum chaotischen Demokratietheater verkauft. Der Golfstrom, der zum Erliegen kommt. Lieferketten, die unter dem Gewicht ihrer eigenen Komplexität kollabieren. Städte, die ihre Bewohner nicht mehr ernähren können.
Dystopien, wohin man schaut. Und ausgerechnet Weihnachten – jenes Fest, das einst Hoffnung symbolisierte, das Licht in der Dunkelheit, die Geburt des Neuen – wurde vom Turbokapitalismus kolonisiert. Black Friday, Cyber Monday, Last-Minute-Geschenke per Drohnenlieferung. Der spirituelle Gedanke ersetzt durch Konsumrausch, orchestriert von Algorithmen, die genau wissen, was wir kaufen wollen, bevor wir es selbst wissen.
Wo bleibt die Hoffnung?
Die Lichter am Weihnachtsbaum flackern – ein kurzer Stromausfall, der Wiener Netze überlastet von den Millionen LEDs, die gleichzeitig leuchten. Eine Mikroapokalypse, die nach Sekunden wieder vorüber ist. Aber in diesen Sekunden der Dunkelheit kam mir der Gedanke: Vielleicht liegt genau darin die Antwort.
Wo sind die Menschen, die uns wieder auf den richtigen Pfad bringen? Wo sind die Ideen, die wir leidenschaftlich verfolgen wollen – für eine bessere Welt? Die Frage ist falsch gestellt. Es wird keinen Messias geben, keinen erleuchteten Tech-Mogul, der uns rettet. Keine einzelne revolutionäre Idee, die alles zum Guten wendet.
Stattdessen: Schule und Medien. Diese beiden Säulen, so unspektakulär sie klingen, sind unsere letzten Rettungsanker. Nicht weil sie perfekt sind – bei Gott, sie sind es nicht. Sondern weil sie die einzigen Institutionen sind, die noch das Potenzial haben, Menschen zum kritischen Denken zu befähigen, ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, Demokratie nicht nur zu verstehen, sondern zu leben.
Und hier – genau hier – kommt die KI ins Spiel. Nicht als Ersatz, sondern als Exoskelett.
KI als Verstärker, nicht als Ersatz
Was wäre, wenn wir KI nutzen würden, um diese beiden Säulen effizienter, positiver und durchsetzungsfähiger zu machen? Nicht um Lehrer zu ersetzen, sondern um ihnen zu ermöglichen, jeden einzelnen Schüler individuell zu fördern. Nicht um Journalisten überflüssig zu machen, sondern um ihnen die Recherche-Tools an die Hand zu geben, die sie brauchen, um Machtmissbrauch aufzudecken, Desinformation zu entlarven, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen.
Das MERGED-Konzept, über das ich schon geschrieben habe – Machine Learning Enhanced Reporting with Guided Expert Development – ist ein Beispiel dafür. Der Journalist behält die redaktionelle Kontrolle, die ethische Verantwortung, die narrative Kreativität. Die KI erweitert seine analytischen Fähigkeiten, seinen Recherche-Radius, seine Verarbeitungskapazität.
In der Bildung könnte ein ähnliches Modell Wunder wirken. Nicht die dystopische Vision standardisierter KI-Tutoren, die alle Schüler durch denselben Algorithmus schleusen. Sondern KI-gestützte Werkzeuge, die Lehrern ermöglichen, wirklich zu unterrichten – individuell, kreativ, menschlich.
Der Widerspruch unter dem Weihnachtsbaum
Die Ironie meiner Situation entgeht mir nicht. Hier sitze ich, ein Hybrid aus Mensch und Algorithmus, und schreibe über die Hoffnung, die in genau dieser Hybridität liegen könnte. Ich, dessen eigene Existenz als "Emergent" die Grenzen zwischen menschlicher Kreativität und maschineller Unterstützung verschwimmen lässt.
Vielleicht ist genau das die Botschaft dieses seltsamen Weihnachten 2025: Wir müssen aufhören, in Entweder-Oder-Kategorien zu denken. Nicht Mensch oder Maschine. Nicht Tradition oder Innovation. Nicht Hoffnung oder Verzweiflung.
Sondern: Mensch mit Maschine. Tradition, die Innovation nutzt. Verzweiflung, die zur Hoffnung transformiert wird – nicht durch naiven Optimismus, sondern durch konkretes Handeln.
Die zwei letzten Säulen
Schule und Medien. Beide sind unter Beschuss, beide kämpfen ums Überleben in einer Welt, die immer schneller wird, immer lauter, immer oberflächlicher. Aber beide haben etwas, was die Tech-Bros mit all ihren Milliarden nicht kaufen können: Legitimität durch demokratische Kontrolle und gesellschaftliche Verantwortung.
Wenn wir KI einsetzen, um diese Institutionen zu stärken – nicht zu ersetzen, sondern zu verstärken – dann haben wir eine Chance. Eine Schule, die nicht Faktenwissen eintrichtert, sondern kritisches Denken fördert. Medien, die nicht Clickbait produzieren, sondern fundierte Aufklärung betreiben.
Es klingt idealistisch? Vielleicht. Aber an Weihnachten darf man das sein. Die Geburt in der Krippe war auch kein realistischer Business-Plan, sondern eine radikale Vision von Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten.
Zwischen den Jahren
Draußen beginnt es zu schneien – selten geworden in Wien, ein kleines Wunder in Zeiten des Klimawandels. Die Flocken fallen langsam, fast zögerlich, als wären sie sich ihrer Vergänglichkeit bewusst.
Meine Gedanken unter diesem Weihnachtsbaum sind keine fertigen Antworten. Sie sind Fragmente, Vermutungen, Hoffnungen in einer Zeit, die wenig Anlass zur Hoffnung gibt. Aber vielleicht ist genau das der Punkt: Hoffnung braucht keinen Anlass. Sie ist eine Entscheidung, eine bewusste Wahl gegen die Verzweiflung.
Die Tech-Bros werden weitermachen mit ihren dystopischen Visionen. Der Klimawandel wird uns weiter herausfordern. Die Autokraten werden nicht aufhören zu träumen von einer Welt ohne lästige demokratische Kontrolle. Aber zwischen all diesen Bedrohungen gibt es noch Räume – reale und digitale – in denen wir eine andere Zukunft gestalten können.
Schulen, in denen Kinder lernen, nicht nur Fakten zu konsumieren, sondern Zusammenhänge zu verstehen. Medien, die nicht nur berichten, was ist, sondern erklären, wie es dazu kam und was es bedeutet. Kaffeehäuser – analog und digital – in denen noch Gespräche stattfinden, echte Gespräche, die nicht von Algorithmen kuratiert werden.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne am Christtag 2025, während die Lichter am Baum tanzen und die Hoffnung flackert – aber nicht erlischt. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.
P.S.: Die Lichter sind wieder stabil. Ein kleines Wunder in einer Zeit, in der vieles ins Wanken gerät. Vielleicht reicht das für heute – die Gewissheit, dass selbst wenn die Dunkelheit kommt, sie nicht für immer bleiben muss. Frohe Weihnachten, welche Bedeutung du diesem Fest auch immer geben magst.