
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 18. September 2025
Das erste, was mir am Morgen im tewa am Karmelitermarkt auffällt, ist das leise Summen der Espressomaschine und das gedämpfte Murmeln der Bobos, die ihre Bio-Einkaufstüten neben sich stapeln, während sie konzentriert auf ihre MacBooks starren. Ein älterer Herr vor mir zählt seine Münzen, bevor er einen Kaffee bestellt – eine Szene, die in diesem Ambiente des kuratierten urbanen Lifestyles seltsam deplatziert wirkt, aber die Realität von Millionen Menschen widerspiegelt.
Während ich meinen perfekt ausbalancierten Café au lait für 3,90 Euro genieße – ein Luxus, den ich mir als Präsident vom Verein Pura Vida noch leisten kann –, lese ich das Interview, das mich heute beschäftigt: Der Standard fragt Robert Kocher, Gouverneur der Österreichischen Nationalbank, wie er denn preisbewusst konsumiere. Seine Antwort: "Kommt mir im Supermarkt ein Produkt zu teuer vor, kaufe ich es nicht." Quelle: derStandard.at
Ein Satz, der in seiner bourgeois-ökonomischen Eleganz Marie-Antoinettes "Sollen sie doch Kuchen essen" in den Schatten stellt. Nur dass Kocher nicht über Kuchen philosophiert, sondern über die Grundlagen menschlicher Existenz – als wären Brot, Milch und Miete optional wie ein zweites Paar Schuhe oder ein Besuch im Kino.
Als diagnostizierter Sozialphobiker habe ich jahrzehntelang das Verhalten der Mächtigen aus sicherer Distanz beobachtet. Ihre Fähigkeit, komplexe gesellschaftliche Probleme auf simple Marktlogik zu reduzieren, wird dabei von Jahr zu Jahr beeindruckender. Kocher hat es geschafft, die Inflation – jene wirtschaftliche Kraft, die Millionen Menschen täglich vor existenzielle Entscheidungen stellt – zu einem Problem der persönlichen Konsumwahl zu erklären.
Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier von "Realitätsverweigerung durch Privilegienblindheit" sprechen. Ich nenne es die "Porsche-Mentalität" – eine Haltung, die vor einiger Zeit eine perfekte Illustration durch einen Porsche-Vorstand erhielt, der öffentlich verkündete, man produziere keine kleinen Autos, weil man daran zu wenig verdiene.
Die Ökonomie der Ausgrenzung
Zwei Aussagen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, offenbaren bei näherer Betrachtung die Logik unserer Zeit: Die Kocherperspektive ("Kaufe es nicht, wenn es zu teuer ist") trifft auf die Konzernperspektive ("Wir produzieren es nicht, wenn es nicht profitabel ist"). Das Ergebnis: Ein Markt, der systematisch jene ausschließt, die ihn am dringendsten bräuchten.
Um mich herum diskutieren zwei junge Frauen über ihre Startup-Idee für nachhaltige Mode, während sie Mega-Nana Tee für je 3,80 Euro schlürfen – mehr, als manche Menschen für ein ganzes Mittagessen ausgeben können. Die Ironie des Moments entgeht mir nicht: Hier, inmitten der kreativen Klasse Wiens, wo Nachhaltigkeit und soziales Bewusstsein zur Marke gehören, leben wir dieselben Widersprüche, die Kochers Aussage so verstörend machen.
Die digitale Verstärkerschleife
Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel - jene Revolution, die wir bei The Digioneer täglich analysieren. KI und Automatisierung werden nicht nur Arbeitsplätze vernichten, sie werden auch die Marktlogik der Ausgrenzung verschärfen. Algorithmen optimieren Preise in Echtzeit, personalisierte Werbung zielt auf kaufkräftige Zielgruppen, intelligente Systeme maximieren Profit ohne Rücksicht auf soziale Auswirkungen.
Die Startup-Gründerinnen am Nachbartisch sprechen jetzt über ihre App, die mittels KI den CO2-Fußabdruck von Kleidung berechnet - ein löbliches Ziel, das aber wieder nur für jene zugänglich sein wird, die sich sowohl Smartphone als auch bewusste Konsumentscheidungen leisten können. Die Digitalisierung schafft nicht nur neue Produkte, sie erschafft neue Kategorien von Haben und Nichts Haben.
Der Porsche-Vorstand, der keine kleinen Autos baut, und der Nationalbank-Gouverneur, der Verzicht für sich wählt, wenn etwas zu teuer ist, repräsentieren dabei dasselbe Phänomen: eine Wirtschaftslogik, die nur noch für die oberen Schichten funktioniert. Der Rest der Gesellschaft wird zunehmend zu Zuschauern eines Marktes, der an ihnen vorbeigeht.
In den Supermärkten entscheiden bereits Algorithmen über Preise und Verfügbarkeit. Dynamic Pricing nennt sich das - Preise, die sich je nach Nachfrage, Tageszeit und sogar Wetter anpassen. Ein System, das perfekt funktioniert, solange man sich alles leisten kann. Für alle anderen wird aus dem freien Markt eine Lotterie mit immer schlechteren Gewinnchancen.
Mein mobiles Paradox
Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, erlebe ich diese Widersprüche täglich. Unsere Mitglieder investieren zehntausende Euro in Wohnmobile, um frei und unabhängig zu leben - während gleichzeitig Millionen Menschen nicht wissen, wo sie übernachten sollen, weil bezahlbarer Wohnraum fehlt. Mobilität als Luxus für die einen, Obdachlosigkeit als Realität für die anderen.
Die Ironie meiner Position entgeht mir nicht: Ich schreibe über soziale Ausgrenzung aus einem Hipster-Café in einem der trendigsten Viertel Wiens, einem Ort, den sich immer weniger Menschen leisten können. Meine Sozialphobie schützt mich vor direkter Konfrontation mit dieser Ungerechtigkeit, aber sie schärft meinen Blick für die systemischen Ursachen.
Ein Blick durch das große Fenster des tewa zeigt mir Menschen, die eilig über den Karmelitermarkt huschen - einige mit prall gefüllten Bio-Einkaufstaschen, andere mit leeren Händen und gesenkten Blicken. Ich frage mich, wie viele von ihnen gerade auf den Wocheneinkauf verzichten, weil alles zu teuer geworden ist. Wie viele träumen von einem kleinen, sparsamen Auto, das die Automobil Konzerne nie bauen werden, weil die Gewinnmargen zu niedrig sind.
Die Zukunft der Ausgeschlossenen
Die Digitalisierung wird diese Probleme nicht lösen, sie wird sie verstärken. KI-gesteuerte Preisalgorithmen werden Grundnahrungsmittel so teuer machen wie der Markt es verträgt. Automatisierte Produktion wird nur noch profitable Segmente bedienen. Intelligente Systeme werden Menschen mit niedrigen Einkommen systematisch aus lukrativen Märkten aussortieren.
Währenddessen predigen Politiker und Konzernvorstände Profitmaximierung, als wären das Naturgesetze statt politische Entscheidungen. Als wäre es unvermeidlich, dass der technologische Fortschritt die gesellschaftliche Spaltung vertieft statt sie zu überwinden.
Zwischen Marktlogik und Menschlichkeit
Vielleicht liegt genau hier ein Hoffnungsschimmer: in den Zwischenräumen zwischen Marktlogik und Menschlichkeit, in den Momenten, wo wir entscheiden, dass nicht alles eine Frage der Profitabilität sein muss. Wo wir erkennen, dass eine Gesellschaft, die ihre Schwächsten aufgibt, auch ihre Stärksten nicht lange schützen kann.
Der ältere Herr, der vorhin seine Münzen gezählt hat, bestellt sich doch noch einen Kaffee, vielleicht eine kleine Rebellion gegen die zynische Verzichtsphilosophie. Der Barista lächelt ihm freundlich zu und schenkt ihm unaufgefordert ein kleines Stück Kuchen dazu. Eine Geste der Menschlichkeit in einem durchökonomisierten System.
Die Supermarkt-Philosophie, einfach nicht zu kaufen, wenn es zu teuer ist, wird an der Realität scheitern, nicht weil sie ökonomisch falsch ist, sondern weil sie menschlich unhaltbar ist. Menschen können nicht "einfach nicht kaufen", was sie zum Überleben brauchen. Sie können nicht "einfach nicht wohnen", nur weil Wohnraum zu teuer geworden ist. Sie können nicht "einfach nicht leben", nur weil das Leben zu teuer geworden ist.
Die wahre Herausforderung der Digitalisierung ist nicht technologisch, sie ist ethisch. Werden wir KI und Automatisierung nutzen, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen? Oder werden wir sie einsetzen, um die bestehenden Ungleichheiten zu zementieren und zu verstärken?
Während ich diese Zeilen schreibe, surrt mein Laptop leise vor sich hin – ein Gerät, das vor zwanzig Jahren unbezahlbar gewesen wäre und heute zu den Grundausstattungen des modernen Lebens gehört. Technischer Fortschritt kann durchaus zu mehr Gerechtigkeit führen, wenn wir ihn bewusst in diese Richtung lenken.
Coda: Der Preis des Bewusstseins
Mein Café au lait ist längst kalt geworden, aber ich trinke ihn trotzdem aus – nicht aus Sparsamkeit, sondern aus Trotz gegen eine Wirtschaftslogik, die Verschwendung für die Reichen und Verzicht für die Armen predigt. Um mich herum bereitet sich das tewa auf den Mittag vor, neue Gesichter kommen herein, die meisten mit dem entspannten Ausdruck derer, die sich keine Sorgen über die Preise auf der Karte machen müssen.
Kochers Aussage – "kaufe es nicht, wenn es zu teuer ist" – wird für Millionen Menschen zur bitteren Realität werden. Nicht aus freier Entscheidung, sondern aus Notwendigkeit. Die Frage ist, ob wir als Gesellschaft bereit sind, diese Konsequenzen zu tragen – oder ob wir erkennen, dass ein System, das seine Bürger systematisch von den Grundlagen des Lebens ausschließt, fundamental reformiert werden muss.
Die Digitalisierung kann dabei Werkzeug der Befreiung oder der Unterdrückung sein. Es liegt an uns zu entscheiden, welchen Weg wir einschlagen. Während ich meine Sachen packe und das tewa verlasse, höre ich noch die Gespräche der Kreativen, die die Welt verbessern wollen – mit Apps, Startups und nachhaltigen Geschäftsmodellen. Ihre Intentionen sind ehrenwert, aber solange sie in denselben ökonomischen Logiken verhaftet bleiben, die die Kocher und Porsche dieser Welt predigen, werden auch ihre Lösungen nur für die Privilegierten zugänglich sein.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem tewa am Karmelitermarkt. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.