Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 20. Februar 2025

Der Frost malt filigrane Muster an die Fenster des Café Prückel, während ich meinen erste Melange des Tages genieße. Meine Hände zittern leicht, als ich die Tasse zum Mund führe - nicht wegen der minus fünf Grad draußen, sondern wegen der Nachrichten, die ich heute Morgen gelesen habe.

Bereits vor zwei Monaten haben wir in der digitalworld Academy eine grundlegende Entscheidung getroffen: TikTok wird nicht mehr als Werbemedium gelehrt, sondern als Beispiel einer fundamental falsch gelaufenen digitalen Entwicklung. Was damals von manchen noch als überzogene Reaktion kritisiert wurde, gewinnt durch die erschütternden Ereignisse der letzten drei Tage eine tragische Rechtfertigung. Die Medienberichte dieser Tage zeichnen ein Bild, das selbst uns Digitalisierungskritiker in seiner Deutlichkeit erschüttert. Während ich den Dampf von meinem Kaffee aufsteigen sehe, wandern meine Gedanken zu Stanisław Lems "Der futurologische Kongress" aus dem Jahr 1971 - ein prophetisches Werk, das eine Welt beschreibt, in der chemische Substanzen die Realitätswahrnehmung der Menschen manipulieren. Wie naiv diese Dystopie heute erscheint, wie harmlos im Vergleich zu unserer Realität.

Die wahren Bewusstseinsmanipulatoren unserer Zeit brauchen keine Chemie - es sind die Tech-Bros mit ihren sozialen Plattformen, die nicht nur unsere Aufmerksamkeit kapern, sondern systematisch unsere Realitätswahrnehmung verzerren. TikTok ist dabei nicht nur die Spitze des Eisbergs, sondern ein Präzedenzfall für die erschreckende Effizienz algorithmischer Radikalisierung.

Als diagnostizierter Sozialphobiker verbringe ich viel Zeit damit, menschliches Verhalten aus der Distanz zu beobachten. Seit ich in den 90ern Desmond Morris' "Der nackte Affe" las, hat mich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber psychologischer Manipulation nicht mehr losgelassen. Morris zeigte damals auf, wie Werbung unsere evolutionären Trigger ausnutzt - aber selbst diese frühe Warnung verblasst angesichts dessen, was wir heute erleben. Die Mechanismen dieser Plattformen sind wie digitale Schnellstraßen in den Abgrund - sie beschleunigen natürliche menschliche Tendenzen zur Polarisierung und transformieren diffuse Ängste in konkrete Feindbilder. Ein Prozess, der in der analogen Welt Jahre oder Jahrzehnte dauerte, vollzieht sich nun in Wochen oder gar Tagen.

Am Nebentisch sitzt eine Gruppe Jugendlicher, ihre Gesichter vom bläulichen Schein ihrer Displays erhellt wie von einem digitalen Mondlicht. Ihre Finger tanzen über die Bildschirme in jenem hypnotischen Rhythmus, den Lem sich nicht einmal in seinen düstersten Visionen hätte ausmalen können. In seinem Roman brauchte es noch chemische Substanzen, um die Wahrnehmung der Menschen zu manipulieren - heute genügt das sanfte Gleiten durch endlose Feeds. Ich beobachte, wie ihre Augen im Takt der Videos zucken, wie sich ihre Gesichtszüge unmerklich den geteilten Emotionen anpassen, wie jede Wischbewegung sie tiefer in ihre personalisierten Realitätsblasen führt. Sie sind Taucher im digitalen Ozean, die nicht bemerken, wie der Algorithmus Schicht um Schicht ihre Weltanschauung umschreibt, bis die Oberfläche der gemeinsamen Realität irgendwann unerreichbar über ihnen schimmert.

Ich nehme einen Schluck von meiner mittlerweile lauwarmen Melange und muss bitter lächeln über meine eigene Scheinheiligkeit. Da sitze ich, der selbsternannte digitale Kaffeehausphilosoph, und verdamme die Echokammern der sozialen Medien - dieselben Echokammern, die ich an weniger düsteren Tagen als "kuratierte Gedankenräume" und "digitale Salons" zu preisen pflege. Wie oft habe ich mich selbst in der beruhigenden Isolation meiner Online-Bubble eingerichtet, geschützt vor den Zumutungen direkter menschlicher Interaktion? Meine Sozialphobie macht mich zum Experten für digitale Rückzugsorte. Aber vielleicht macht sie mich auch blind für die Grenze zwischen heilsamem Rückzug und gefährlicher Isolation.

Und genau diese Grenze, diese feine Linie zwischen Schutzraum und Gefängnis, haben die Tech-Bros perfektioniert. Sie haben verstanden, was Lem nur ahnte: Dass unsere tiefsten Ängste und Sehnsüchte - sei es meine Sozialphobie oder der jugendliche Wunsch nach Zugehörigkeit - der perfekte Nährboden für digitale Manipulation sind. Sie haben aus meinem Bedürfnis nach Rückzug ein Geschäftsmodell gemacht, aus der adoleszenten Identitätssuche eine Radikalisierungsmaschine. Es geht längst nicht mehr nur um Datensammlung oder Werbung. Es geht um die systematische Ausbeutung unserer psychologischen Schwachstellen, um die industrielle Fertigung von Extremismus.

Der Kellner bringt mir eine zweite Melange. Das Geräusch der Kaffeemaschine vermischt sich mit dem gedämpften Stimmengewirr im Raum - echte Gespräche, nicht durch Algorithmen gefiltert. Ich denke an die Ergebnisse unserer eigenen Recherchen bei The Digioneer analog zu den Tests der Tagespresse: Neun von neun Testprofilen wurden innerhalb kürzester Zeit mit extremistischen Inhalten konfrontiert. Was als Experiment begann, wurde zu einem erschreckenden Zeugnis systematischer Radikalisierung.

Die eigentliche Tragödie unserer Zeit ist nicht, dass die Tech-Bros solche Systeme entwickeln - das ist die kalte Logik der Aufmerksamkeitsökonomie. Die Tragödie ist unser kollektives Versagen, dem Einhalt zu gebieten. Während wir über Datenschutz diskutieren und uns über Fake News aufregen, läuft im Hintergrund eine Maschinerie, die systematisch die Grundfesten unserer Gesellschaft untergräbt.

Draußen hat der Frost die Scheiben nun völlig mit seinem kristallinen Muster überzogen. Mein Smartphone vibriert - eine weitere Notification, eine weitere mikroskopische Invasion in meinen Gedankenraum. In Lems Roman erlebt der Protagonist Ijon Tichy einen Moment der erschreckenden Klarheit, als die Wirkung der Psychocremen und Hallucinogene kurz nachlässt. Plötzlich sieht er die Welt, wie sie wirklich ist: Eine verfallene Dystopie, maskiert von chemisch induzierten Halluzinationen. Die scheinbar luxuriösen Hotels sind in Wahrheit Elendsviertel, die vermeintlich üppigen Mahlzeiten bestehen aus künstlich aromatisiertem Algenschleim.

Beim Beobachten der jungen Menschen hier im Café frage ich mich, ob sie nicht in einer ähnlichen Situation sind. Ihre scheinbar unendlichen Feeds voller lächelnder Gesichter, perfekter Momente und starker Meinungen - sind sie nicht auch nur ein digitaler Algenschleim, der die Realität überdeckt? Wie Tichys Halluzinogene machen unsere algorithmischen Drogen die Welt "schöner", eindeutiger, extremer. Und wie in Lems Roman ist der Moment des Erwachens, des Durchbrechens dieser künstlichen Realität, erschreckend und desorientierend zugleich. Wie viele junge Menschen kämpfen heute diesen Kampf zwischen digitaler Halluzination und analoger Realität, ohne überhaupt zu wissen, dass sie in einem Roman gefangen sind, der von Tech-Bros geschrieben wird?

Die Entscheidung der Academy, TikTok als Warnung statt als Werbemedium zu lehren, war nur ein erster Schritt. Während die Politik sich in vereinfachenden Schuldzuweisungen verliert und komplexe technologische Zusammenhänge auf simple Feindbilder reduziert, brauchen wir ein fundamentales Umdenken im Umgang mit sozialen Medien. Es reicht nicht, oberflächliche Symptome zu bekämpfen - wir müssen die systemischen Mechanismen verstehen und adressieren. Wir müssen aufhören, sie als harmlose Unterhaltungsplattformen zu behandeln und anfangen, sie als das zu sehen, was sie sind: mächtige Werkzeuge zur Manipulation des menschlichen Bewusstseins.

Stanisław Lem hat uns gewarnt, aber seine Warnung war zu optimistisch. Er imaginierte eine Welt, in der die Menschen zumindest noch die Wahl hatten, die bewusstseinsverändernden Substanzen zu nehmen oder nicht. Wir haben diese Wahl längst verloren - die digitalen Psychotropika sind in der Luft, die wir atmen, im Wasser, das wir trinken, in den sozialen Beziehungen, die unser Leben definieren.

Phil Roosen schreibt diese Kolumne aus dem warmen Café Prückel, wo echte Gespräche noch möglich sind. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

P.S.: Die Jugendlichen am Nebentisch sind aufgestanden. Zurück blieb ein Tisch voller leerer Tassen - und die beklemmende Erkenntnis, dass selbst jahrzehntelanges Misstrauen gegenüber psychologischer Manipulation uns nicht ausreichend auf das vorbereitet hat, was die Algorithmen heute mit unseren Köpfen anstellen.

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