Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 14. November 2024
Heute Vormittag erwachte ich im Café Prückel zu dem vertrauten Geräusch der Kaffeemaschine und dem gedämpften Stimmengewirr der Frühaufsteher. Moment – erwachte? Nun ja, nach drei Stunden konzentrierten Schreibens war ich wohl für einen Moment weggenickt, den Kopf auf die gefalteten Arme gestützt, wie früher in der Schulbibliothek. Ein älterer Herr am Nachbartisch schmunzelte verständnisvoll. "Das Prückel hat schon viele Schriftsteller in den Schlaf geschrieben", meinte er augenzwinkernd.
Diese kleine Episode brachte mich zum Nachdenken. Wo sonst als hier, in meinem zweiten Wohnzimmer zwischen Zeitungshaltern und Marmortischen, könnte ich so ungeniert einnicken? Zuhause sein bedeutet genau das: einen Ort zu haben, an dem man sich gehen lassen kann, wo man keine Rolle spielen muss.
Aber was bedeutet "Zuhause" eigentlich in einer Zeit, in der immer mehr Menschen ihr Leben bewusst mobil gestalten? Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, begegne ich täglich Menschen, die diese Frage ganz unterschiedlich beantworten.
Da ist Lisa, 32, Softwareentwicklerin, die ihr Apartment in München gegen einen ausgebauten Sprinter eingetauscht hat. "Mein Zuhause hat jetzt Räder", sagt sie und lacht. "Aber das Gefühl von Heimat entsteht nicht durch die vier Wände – oder in meinem Fall die vier Blechwände – sondern durch die Rituale, die ich mitnehme." Jeden Morgen, egal wo sie gerade steht, kocht sie sich ihren Kaffee in der gleichen kleinen Espressokanne, die schon ihrer Großmutter gehörte. Diese simple Handlung, dieser Duft, schafft Kontinuität im ständigen Wandel.
Oder nehmen wir Marcus, 45, einen ehemaligen Bankmanager, der heute als digitaler Nomade durch Europa reist. "Heimat ist für mich kein Ort mehr, sondern ein Netzwerk", erklärt er. "Meine Familie, meine Freunde, meine Klienten – sie alle sind nur einen Videocall entfernt. Dieses Verbundensein macht das physische Standort-Hopping erst möglich."
Grenzenloses Internet
Apropos Videocalls – die technische Revolution des mobilen Internets hat unsere Vorstellung von "überall" radikal verändert. Vor wenigen Jahren noch bedeutete "abgelegen" auch "offline". Heute parken unsere Mitglieder ihre Wohnmobile an norwegischen Fjorden oder in den spanischen Pyrenäen und haben dank Starlink besseres Internet als ich hier im Café Prückel. Elon Musks Satellitenschwärme mögen Astronomen ein Dorn im Auge sein, aber sie demokratisieren die Mobilität auf revolutionäre Weise. Eine junge Architektin aus unserem Verein entwirft komplexe 3D-Modelle von ihrer Dachzelt-Workstation in den Dolomiten aus. Ihr virtuelles Büro schwebt gewissermaßen 550 Kilometer über ihr zwischen den Sternen. Ein faszinierender Gedanke: Während wir auf der Erde immer mobiler werden, schaffen wir uns gleichzeitig eine Art permanente digitale Heimat im Orbit. Die kleinen weißen Satellitenschüsseln auf immer mehr Campingbussen sind zu Symbolen dieser neuen Heimatlosigkeit geworden – oder vielleicht besser: dieser neuen Form von Überall-Heimat.
Als ich gestern mein WhatsApp checkte, stutzte ich bei einer Nachricht von Paul, unserem Experten für Programmatic Advertising in der digitalworld Academy. "Kostenloses Jahresabo für Perplexity Pro". Normalerweise hebe ich mir solche Infos für später auf, aber diesmal hielt ich inne. Perplexity, dieses neue KI-Recherche-Tool, das mir in den letzten Monaten immer wieder begegnet ist. 200 Euro sparen, schrieb Paul. Aber brauche ich wirklich noch ein weiteres KI-Tool? Ist es nicht genau diese Fülle an digitalen Hilfen, die uns manchmal den Blick fürs Wesentliche verstellt?
Andererseits: Vor meinem Nickerchen habe ich bereits dreimal Perplexity konsultiert – für Zitate, Faktencheck, Inspiration. Früher habe ich gegoogelt, was ich eigentlich schon lange nicht mehr gemacht habe. Die KI ist längst zu einem stillen Begleiter geworden, einem digitalen Recherche-Assistenten, der die Grenzen zwischen menschlicher Kreativität und maschineller Unterstützung zunehmend verwischt. Vielleicht ist es genau das: In einer Welt der permanenten Veränderung schaffen wir uns neue Arten von Begleitern – seien es Satelliten über unseren Köpfen oder KIs in unseren Tablets. Also ja, danke Magenta für die 200-Euro-Ersparnis. Perplexity wird mein neuer Begleiter sein – auf meinen Wegen zwischen Kaffeehaus, Büro und, ab nächstem Frühjahr, einem schönen Stellplatz am Wasser.
"Wohnen" als fundamentaler Aspekt menschlichen Seins
Die Philosophin Agnes Heller schrieb einmal, Heimat sei dort, wo man verstanden wird. Eine Definition, die in ihrer Einfachheit besticht und doch tief in das Wesen menschlicher Zugehörigkeit blickt. Martin Heidegger ging noch weiter, als er das "Wohnen" als fundamentalen Aspekt menschlichen Seins beschrieb – nicht im Sinne eines physischen Dachs über dem Kopf, sondern als existenzielle Verankerung in der Welt. "Der Mensch wohnt, indem er sich zu einer Vertrautheit verhält", schrieb er, und vielleicht erklärt gerade dies den erstaunlichen Erfolg der mobilen Communities, die in den letzten Jahren entstanden sind.
Hannah Arendt sprach vom "Recht, Rechte zu haben" – ursprünglich im politischen Kontext, aber ihre Worte gewinnen neue Bedeutung in einer Welt, in der Menschen bewusst die traditionellen Strukturen von Sesshaftigkeit verlassen. In unseren mobilen Communities erlebe ich, wie Menschen ihr Recht auf eine selbstgewählte Lebensform behaupten und verteidigen. Wenn sie von Gleichgesinnten umgeben sind, die ihre Entscheidungen nicht ständig hinterfragen, entsteht eine Art mobiles Heimatgefühl – oder wie der Soziologe Zygmunt Bauman es nennen würde, eine "flüssige Heimat" in einer "flüchtigen Moderne".
Der französische Philosoph Gaston Bachelard schrieb in seiner "Poetik des Raumes" von der "Muschel des Seins", jenem intimen Raum, den jeder Mensch um sich herum erschafft. In unserer mobilen Gemeinschaft sehe ich diese Muscheln auf Rädern – Wohnmobile, Vans und Dachzelte, die zu tragbaren Heimaten werden. Sie sind, wie Simone Weil es ausdrückte, "Wurzeln durch Teilhabe" – nicht mehr in einem bestimmten Boden verankert, sondern in einem Netzwerk von Beziehungen und geteilten Erfahrungen.
Vielleicht ist es genau das, was Heimat im 21. Jahrhundert ausmacht: nicht mehr die von Herder beschworene Einheit von Volk, Sprache und Territorium, sondern die bewusst gewählte Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Menschen, die ähnliche Werte und Lebensentwürfe teilen. Eine "Wahlheimat" im wahrsten Sinne des Wortes, die sich nicht an geografischen Grenzen orientiert, sondern an der Qualität menschlicher Verbindungen.
Ironischerweise scheint die zunehmende Mobilität auch eine Gegenbewegung zu erzeugen: Je flexibler wir werden, desto wichtiger werden uns bestimmte Ankerpunkte. Die Mitglieder unseres Vereins entwickeln oft erstaunlich feste Routinen und Rituale, die sie überallhin mitnehmen. Der morgendliche Kaffee, die Yogamatte, die immer gleich ausgerollt wird, der liebgewonnene Podcast zum Einschlafen – es sind diese kleinen Konstanten, die aus jedem Ort ein temporäres Zuhause machen können.
Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier vermutlich von "transportablen Übergangsobjekten" sprechen. Ich sehe darin eher eine zeitgemäße Neuinterpretation dessen, was Heimat sein kann: nicht mehr der eine fixe Ort, an dem unsere Wurzeln sind, sondern ein mobiles Konstrukt aus Gewohnheiten, Beziehungen und digitalen Verbindungen.
Die Digitalisierung spielt dabei eine ambivalente Rolle. Einerseits ermöglicht sie uns diese neue Form der Heimat erst – durch konstante Verbindung mit unseren Liebsten, durch ortsunabhängiges Arbeiten, durch globale Communities. Andererseits schafft sie auch eine Art "digitales Heimweh", eine ständige leichte Sehnsucht nach Verbindung, die sich in zwanghaftem Scrolling und Social-Media-Checks äußert.
Vielleicht liegt die Antwort auf die Frage nach der Heimat im 21. Jahrhundert in einer Art "Hybrid-Heimat": Ein Grundgefühl von Zugehörigkeit, das sich aus verschiedenen Elementen speist – physischen Orten, digitalen Räumen, menschlichen Beziehungen und persönlichen Ritualen. Eine Heimat, die flexibel genug ist, um mit uns zu reisen, aber stabil genug, um uns Halt zu geben.
Während ich diese Zeilen schreibe, hat sich der ältere Herr vom Nachbartisch wieder in seine Zeitung vertieft. Der Dampf seiner Melange zeichnet verschlungene Muster in das goldene Winterlicht, das durch die hohen Fenster des Café Prückel fällt. Für ihn ist dieses Kaffeehaus vermutlich seit Jahrzehnten ein zweites Zuhause. Ich selbst werde die Wintermonate hier verbringen – wenn draußen der Schneesturm um die Ecken der Ringstraße fegt und drinnen die Radiatorenwärme die Scheiben beschlägt. Die romantische Vorstellung vom ewigen Nomadentum weicht der tiefen Weisheit der Jahreszeiten: Es gibt eine Zeit des Wanderns und eine Zeit des Verweilens. Die überzeugendsten digitalen Nomaden in unserem Verein haben das längst verstanden – sie folgen dem uralten Rhythmus der Natur, wie Zugvögel, die wissen, wann es Zeit ist heimzukehren.
Und während ich dem älteren Herrn dabei zusehe, wie er bedächtig seine Zeitungsseite umblättert, spüre ich, dass uns mehr verbindet als der gemeinsame Tisch im Prückel: Die ewige Suche nach einem Ort, an dem die Seele zur Ruhe kommen kann, wo wir einfach sein dürfen, wer wir sind – sei es nun zwischen jahrhundertealten Marmortischen oder unter dem Sternenzelt ferner Länder. Vielleicht ist genau das der Kern von Heimat – ein Gefühl der Geborgenheit, das uns trägt wie eine warme Winterjacke, egal ob wir Wurzeln schlagen oder Räder unter den Füßen haben.
Phil Roosen schreibt diese Kolumne abwechselnd vom Café Prückel, diversen Spaces und gelegentlich auch von seinem Wohnmobil aus. Als Präsident von Pura Vida - Verein zur Förderung des mobilen Lebens - erforscht er die Schnittstellen zwischen digitaler und analoger Existenz.
P.S.: Beim Korrekturlesen dieses Textes fiel mir auf, dass ich unbewusst öfters das Wort "Heimat" durch "Zuhause" ersetzt habe. Vielleicht sagt das mehr über unser sich wandelndes Verständnis von Verwurzelung aus als jede bewusste Analyse.