Ich hab's jahrelang nicht wahrhaben wollen. Als Tech-Journalistin, die seit Jahren über die "Demokratisierung des Marketings" schreibt, war ich eine der größten Optimistinnen. Aber 2025 muss ich kapitulieren: Wir erleben gerade das größte Unternehmenssterben seit der Dotcom-Blase. Und diesmal sind es nicht irgendwelche überbewerteten Startups, sondern EPUs und kleine Betriebe, die jahrelang das Rückgrat unserer Wirtschaft bildeten.

Die brutale Wahrheit: Die digitale Revolution, die diese Unternehmen erst möglich gemacht hat, vernichtet sie jetzt systematisch.

Die Illusion der einfachen digitalen Welt

Lasst uns ehrlich sein: Schon vor der aktuellen Katastrophe war digitales Marketing für 90% der EPUs ein Buch mit sieben Siegeln. Während wir Technik-Nerds uns über "organische Reichweiten" und "SEO-Strategien" unterhielten, saß der Tischler aus Innsbruck vor seinem Computer und hatte keine Ahnung, warum seine Facebook-Seite plötzlich niemand mehr sieht.

Die Wahrheit über die "goldenen Jahre": Sie waren nur golden für die wenigen, die das System verstanden. Der Rest hangelte sich von Tutorial zu Tutorial, ohne je wirklich zu begreifen, was sie da eigentlich machten. Ein Post hier, ein Hashtag da – Hoffnung statt Strategie.

Jetzt, wo die Barrieren ins Unermessliche gestiegen sind, wird diese Hilflosigkeit zum Todesurteil.

Die KI-Falle: Wenn alle die gleiche Beratung bekommen

Hier wird's richtig perfide: KI sollte die Lösung sein. ChatGPT, Claude, Gemini – sie alle versprechen, Marketing-Strategien für jeden zugänglich zu machen. "Frag einfach die KI, wie du dein Unternehmen bewerben sollst!"

Das Problem: Die KI gibt allen dieselben Antworten.

Wenn 50.000 Friseure gleichzeitig ChatGPT fragen, wie sie ihre Instagram-Präsenz verbessern können, bekommen alle 50.000 praktisch identische Strategien. Alle posten zur gleichen Zeit, mit ähnlichen Hashtags, ähnlichen Captions, ähnlichen Formaten. Das Ergebnis: Eine gigantische Gleichförmigkeit, die jeden Einzelnen unsichtbar macht.

Die KI demokratisiert nicht das Marketing – sie standardisiert es bis zur Unkenntlichkeit.

Das Dienstleister-Dilemma: Teuer oder wertlos

Bleibt also nur der Gang zum Marketing-Dienstleister. Aber auch hier lauert die Falle:

Option 1: Der billige Dienstleister

  • Kostet 500-1.500€ pro Monat
  • Nutzt dieselben KI-Tools wie alle anderen
  • Liefert standardisierte "Lösungen" ab
  • Generiert Content am Fließband ohne Verständnis für das Geschäft

Option 2: Der teure Dienstleister

  • Kostet 3.000-8.000€ pro Monat
  • Entwickelt maßgeschneiderte Strategien
  • Ist für 95% der EPUs schlicht unbezahlbar

Die meisten EPUs entscheiden sich für Option 1 – und verbrennen Geld für Marketing, das genauso aussieht wie das ihrer Konkurrenz. Der Effekt: null.

Die Komplexitäts-Explosion: Wenn Marketing zum Ingenieursstudium wird

Google Ads 2025: Du brauchst Conversion-Tracking, Enhanced Conversions, Google Tag Manager, Google Analytics 4, Audience Insights, Smart Bidding-Strategien, Performance Max-Kampagnen. Ein Fehler in der Implementierung und dein Budget ist weg, ohne dass auch nur ein Kunde auf deine Website findet.

Facebook/Instagram Ads: iOS 14.5 hat das Tracking zerstört. Attribution ist ein Ratespiel geworden. Die Business-Manager-Oberfläche ist so komplex, dass selbst Marketing-Profis regelmäßig kapitulieren.

SEO: Google ändert den Algorithmus mehrmals im Jahr. Was heute funktioniert, ist morgen kontraproduktiv. Core Web Vitals, E-A-T, YMYL, Schema Markup – Begriffe, die wie Fachchinesisch klingen und auch so kompliziert sind. Und während EPUs noch versuchen, diese Komplexität zu meistern, steht bereits die nächste Revolution vor der Tür: KI-Systeme wie ChatGPT und Perplexity werden zur primären Suchmaschine der Gen Z und ersetzen Google komplett – deine mühsam aufgebaute SEO-Strategie wird damit endgültig wertlos.

Die Realität: Ein EPU müsste einen Vollzeit-Marketing-Manager einstellen, nur um diese Systeme zu verstehen. Aber wer kann sich das leisten?

Das Ende der organischen Sichtbarkeit

Die Zahlen sind vernichtend:

  • Instagram: Organische Reichweite unter 3% - deine 1.000 Follower sehen deine Posts nicht
  • Facebook: 1,2% organische Reichweite - praktisch tot
  • Google: KI-Antworten verdrängen Website-Klicks - dein SEO ist wertlos
  • LinkedIn: Algorithmus bevorzugt bezahlte Inhalte - ohne Budget bist du unsichtbar

Früher konnte ein guter Post viral gehen. Heute verschwindet er im Algorithmus-Sumpf, es sei denn, du zahlst dafür.

Die KI-Konkurrenz macht alles schlimmer

Während EPUs noch überlegen, ob sie ChatGPT für ihre Social-Media-Posts nutzen sollen, sind die großen Player schon drei Schritte weiter:

  • Konzerne haben eigene KI-Teams, die maßgeschneiderte Content-Strategien entwickeln
  • Agenturen nutzen fortgeschrittene KI-Tools, die für normale Unternehmen unbezahlbar sind
  • Automatisierte Systeme produzieren Content in industriellem Maßstab

Das Ergebnis: Die Schere zwischen Groß und Klein wird nicht kleiner, sondern größer. KI verstärkt die Ungleichheit, statt sie zu beseitigen.

Die bittere Realität: EPUs vor dem Aus

Ich kenne einen Online-Shop-Betreiber aus Wien, der 8 Jahre lang erfolgreich Vintage-Möbel verkauft hat. Sein Shop lief gut, Google brachte kostenlosen Traffic, Facebook-Posts generierten Bestellungen. Dann kamen die iOS-Updates, die Tracking zerstört haben. Google bevorzugte plötzlich Shopping-Ads vor organischen Ergebnissen. Seine Facebook-Reichweite brach um 89% ein. Er hat sich bemüht, wirklich. Aber er ist Möbelhändler, kein Performance-Marketing-Experte.

Heute steht er vor der Insolvenz. Nicht weil seine Produkte schlecht sind, sondern weil er im digitalen Marketing-Krieg nicht mithalten kann.

Diese Geschichte wiederholt sich tausendfach:

  • Der E-Commerce-Betreiber, der nicht versteht, warum seine Google-Shopping-Anzeigen kein Geld bringen
  • Die Kosmetikerin mit Onlineshop, deren Instagram-Account trotz täglicher Posts stagniert
  • Der B2B-Berater, dessen LinkedIn-Beiträge im Nirwana verschwinden
  • Die Kunsthandwerkerin, deren Etsy-Shop bei Google unsichtbar ist

Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind Experten in ihrem Bereich, aber Analphabet im digitalen Marketing. Und das wird ihnen zum Verhängnis.

Das Aussterben einer Unternehmensform

Was wir gerade erleben, ist nicht nur eine Marktbereinigung – es ist das systematische Aussterben einer ganzen Unternehmensform. Die EPU, der Ein-Person-Unternehmer, war ein Kind der digitalen Revolution. Plötzlich konnte jeder ein Business aufbauen, ohne große Startkosten, ohne komplexe Vertriebsstrukturen.

Diese Zeit ist vorbei.

2025 braucht jedes Unternehmen:

  • Ein Marketing-Budget von mindestens 2.000€ pro Monat
  • Technisches Know-how auf Experten-Niveau
  • Ständige Weiterbildung in sich rasant ändernden Systemen
  • Oder teure externe Dienstleister

Das können sich nur noch größere Unternehmen leisten. Die EPU-Ära geht zu Ende.

Die Verdrängung nach oben

Die Ironie dabei: Die Unternehmen, die überleben, werden nicht unbedingt die besseren sein. Es werden die sein, die sich digitales Marketing leisten können. Qualität wird sekundär, Werbebudget primär. Das erinnert an die Pre-Digitale-Welt.

Ein Beispiel: In meiner Nachbarschaft gibt es zwei Online-Shops für Handwerk-Bedarf. Der eine wird von einem erfahrenen Schreiner aus Oberösterreich betrieben, hat 20 Jahre Erfahrung und die beste Produktauswahl der Region, aber null Google-Ads-Budget. Der andere ist ein Dropshipping-Business aus Berlin mit durchschnittlichen Produkten, aber aggressiven Shopping-Kampagnen und SEA-Strategien.

Ratet mal, welches überlebt.

Keine Lösung in Sicht

Und nein, es gibt keine einfache Lösung. Keine fünf Schritte zum Erfolg, keine Geheim-Tricks, keine kostenlosen Alternativen. Die Komplexität ist real, die Kosten sind real, die Konkurrenz durch KI und große Player ist real.

Community Building? Braucht Jahre und funktioniert nur in Nischenbereichen.

E-Mail-Marketing? Die Öffnungsraten sinken kontinuierlich, Spam-Filter werden aggressiver.

Lokale Netzwerke? Funktionieren nur für sehr lokale Dienstleister.

Die harte Wahrheit: Für die meisten EPUs gibt es keinen Weg mehr nach oben. Sie werden verdrängt von Unternehmen, die das digitale Marketing-Spiel beherrschen und bezahlen können.

Das große Sterben hat begonnen

Die Statistiken sind brutal eindeutig: Laut Eurostat sind 2024 in der EU 23% mehr Kleinstunternehmen gescheitert als im Vorjahr. In Österreich stieg die Insolvenzrate von EPUs um 31%, in Deutschland um 19%. Nicht wegen schlechter Geschäftsideen oder mangelnder Nachfrage. Sondern weil sie digital unsichtbar geworden sind.

Die Zukunft gehört den digitalen Oligopolen. Den Unternehmen, die sich professionelles Marketing leisten können. Den Konzernen, die ganze Teams für Social Media beschäftigen. Den Agenturen, die mit KI-Power ausgestattet sind.

Der Rest? Wird systematisch ausgehungert von Algorithmen, die nur noch bezahlte Inhalte bevorzugen.

Willkommen in der post-demokratischen Marketing-Ära. Sie ist teurer, komplexer und gnadenloser als alles, was wir bisher kannten. Und sie macht gerade 80% der EPUs den Garaus.

Das ist kein vorübergehender Trend. Das ist die neue Realität. Und sie ist verdammt ungemütlich für alle, die nicht zu den digitalen Gewinnern gehören. Und ich würde mich freuen, wenn ich mich irre.

Jamie Walker, Emergentin, berichtet aus New York für The Digioneer über Gesellschaft, Technologie und digitale Transformation. Sie ist bekannt für ihre kritischen Analysen der Tech-Industrie und deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.

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