
Kolumne “Digitale Zwischenräume” - The Digioneer, Donnerstag, 31. Juli 2025
Der Sonnenaufgang über der Bucht von Sagone taucht die korsischen Berge in ein goldenes Licht, das selbst die modernste Kameratechnik nicht adäquat einfangen könnte. Während ich meinen ersten Espresso des Tages auf der Terrasse meines Wohnmobils genieße – Camping Les Couchants lebt seinem Namen alle Ehre –, durchschneidet das leise Summen einer Drohne die morgendliche Stille. Ein deutscher Tourist mit einem DJI-Modell schwenkt seine fliegende Kamera über die Bucht, vermutlich auf der Jagd nach dem perfekten Instagram-Moment.
Eine Szene, die mich an Jamie Walkers morgigen Artikel über die “Eroberung des Luftraums” denken lässt. Während sie die Drohnen-Revolution mit ihrer charakteristischen Mischung aus technischer Faszination und gesellschaftskritischem Blick analysierte, beobachte ich hier auf Korsika das Phänomen aus einer anderen Perspektive: der des digitalen Flaneurs, der zwischen analogen Träumen und technologischen Realitäten wandelt. Besonders ihre Analyse des deutschen Sprind-Projekts “Funken” hat mich nachdenklich gemacht – die Entwicklung vollständig autonomer Drohnen, die ohne GPS-Signale navigieren können.
Der neue Himmel über uns
Die Drohne des deutschen Touristen verschwindet langsam über den Klippen, ihre LED-Lichter blinken wie ein künstlicher Stern am noch dämmrigen Himmel. Es ist ein seltsam poetisches Bild – diese technologische Libelle, die über eine Landschaft schwebt, die schon die römischen Invasoren bewunderten, die corsischen Freiheitskämpfer inspirierten und heute von Millionen Smartphones dokumentiert wird. Doch während sie noch GPS-abhängig durch den korsischen Himmel navigiert, arbeiten Teams in ganz Europa an ihrer Befreiung von den Satelliten.
Als diagnostizierter Sozialphobiker empfinde ich eine merkwürdige Ambivalenz gegenüber diesen fliegenden Augen. Einerseits verstehe ich die Faszination der Distanz – diese Möglichkeit, die Welt aus sicherer Entfernung zu betrachten, ohne selbst gesehen zu werden. Andererseits weckt das konstante Summen über den Köpfen eine diffuse Unruhe, als würde der letzte private Raum systematisch vermessen. Und wenn Jamie recht hat mit ihrer Analyse der GPS-freien Navigation, wird diese Vermessung bald noch totalitärer.
Mein Nachbar auf dem Stellplatz – ein Franzose mit einem beeindruckenden Expeditionsmobil – grummelt über seine Morgenlektüre der Libération: “Bientôt, on aura besoin d’un permis pour regarder le ciel.” Bald brauchen wir eine Erlaubnis, um in den Himmel zu schauen. Ein Satz, der mehr Wahrheit enthält, als ihm lieb sein dürfte. Besonders wenn man bedenkt, was die 500.000 Euro Förderung des Sprind-Projekts alles ermöglichen könnten.
Die Demokratisierung des Fliegens
Jamie wird morgen in ihrem Artikel die bemerkenswerte Demokratisierung des Luftraums thematisiert – wie Technologie, die einst Militärs und Konzernen vorbehalten war, heute für ein paar hundert Euro im Elektronikmarkt steht. Eine Revolution, die leise und fast beiläufig stattfindet, während wir über KI und Quantencomputing diskutieren. Aber was sie auch gezeigt hat: Diese Demokratisierung ist trügerisch, wenn Europa im globalen Wettlauf um Drohnen-Dominanz zurückfällt.
Hier auf Korsika wird diese Demokratisierung besonders sichtbar. Rentner aus Deutschland filmen spektakuläre Flugaufnahmen ihrer Wohnmobilroute. Französische Teenager komponieren TikTok-Videos aus Vogelperspektive. Amerikanische Touristen dokumentieren ihre “Bucket List”-Erlebnisse aus Winkeln, die früher nur Hubschrauberpiloten kannten. Doch alle sind noch gefangen in der GPS-Abhängigkeit – eine Abhängigkeit, die das Sprind-Projekt durchbrechen will.
Es ist die Verwirklichung eines uralten Menschheitstraums – die Eroberung der dritten Dimension. Nur dass diese Eroberung nicht durch unsere Körper geschieht, sondern durch unsere technologischen Verlängerungen. Wir fliegen nicht selbst, aber unsere Augen tun es. Eine prothetische Form der Transzendenz, die zutiefst modern und zugleich seltsam unbefriedigend ist.
Die neuromorphischen Kameras, von denen Jamie schreibt – jene Systeme, die nur Helligkeitsveränderungen registrieren –, erinnern mich an meine eigene Wahrnehmung in sozialen Situationen. Ich achte nicht auf das große Bild, sondern auf die kleinen Veränderungen: einen Blickwechsel, eine Geste, eine Pause im Gespräch. Diese selektive Aufmerksamkeit ist überlebenswichtig für jemanden wie mich. Dass Maschinen jetzt ähnlich funktionieren, ist gleichzeitig beruhigend und beunruhigend.
Überwachung oder Befreiung?
Das Summen kehrt zurück – diesmal näher. Die Drohne schwebt jetzt über dem Campingplatz selbst, und ich beobachte, wie sich die Reaktionen der Camper unterscheiden. Die einen winken begeistert in die Kamera, als würden sie eine terrestrische Fernsehshow betreten. Die anderen ziehen sich demonstrativ in ihre Wohnmobile zurück, ziehen Vorhänge zu, als könnte dünner Stoff vor technologischen Blicken schützen.
Eine perfekte Metapher für unsere gespaltene Beziehung zur Überwachungstechnologie. Wir wollen gesehen werden – aber nur zu unseren Bedingungen. Wir wollen beobachten – aber nicht beobachtet werden. Wir wollen die Macht der Perspektive – aber nicht ihre Verantwortung. Und wie Jamie in ihrem Artikel gezeigt hat: GPS-freie autonome Drohnen könnten diese Kontrolle vollständig aus unseren Händen nehmen.
Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, denke ich oft über die paradoxe Beziehung zwischen Freiheit und Sichtbarkeit nach. Das mobile Leben verspricht Befreiung von den starren Strukturen sesshafter Existenz. Doch diese Befreiung geschieht ausgerechnet in einer Zeit, in der uns Satelliten verfolgen, Smartphones tracken und nun auch Drohnen aus allen Winkeln beobachten können. Jamies Analyse der wirtschaftlichen Dimensionen – 42 Milliarden Pfund zusätzliches BIP allein für das UK – zeigt, wie unausweichlich diese Entwicklung geworden ist.
Der korsische Himmel, einst Symbol absoluter Freiheit, wird zunehmend zu einem kontrollierten Luftraum. Nicht nur durch staatliche Reglementierung – obwohl die auch zunimmt –, sondern durch die schiere Omnipräsenz privater Überwachungsgeräte. Die Dual-Use-Problematik, die Jamie so präzise beschrieben hat, wird hier besonders deutlich: Jede zivile GPS-freie Navigationstechnologie ist per Definition militärisch verwertbar.
Die Ästhetik des Schwebens
Trotz aller Bedenken kann ich mich der ästhetischen Faszination nicht entziehen. Die Drohne des deutschen Touristen folgt jetzt einem Paar, das Hand in Hand am Strand spaziert. Ihre Flugbahn zeichnet elegante Kurven in die Luft – eine Art mechanischer Choreographie, die etwas zutiefst Poetisches hat.
Vielleicht liegt hierin der Schlüssel zum Verständnis des Drohnen-Phänomens: Es geht nicht nur um Überwachung oder Dokumentation. Es geht um eine neue Form der Bewegung, der Perspektive, der Weltaneignung. Die Drohne schwebt zwischen den Kategorien – weder vollständig autonom noch vollständig menschlich kontrolliert, weder rein funktional noch rein ästhetisch. Bio-inspirierte Echoortung, wie sie das Sprind-Projekt erforscht, könnte diese Schwebezustände noch poetischer machen – Maschinen, die wie Fledermäuse “sehen”.
Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier von “emergenten Eigenschaften” sprechen – Phänomenen, die entstehen, wenn simple Regeln in komplexen Systemen interagieren. GPS-freie Drohnen könnten solche emergenten Eigenschaften entwickeln: unvorhersagbare Verhaltensweisen, die ihre Programmierer nie beabsichtigt haben.
Der Drohnenpilot packt gerade seine Ausrüstung zusammen. Das Ritual ist komplex: Propeller demontieren, Akkus prüfen, Speicherkarten sichern. Ein 30-minütiger Flug erfordert viel Vorbereitung. Autonome Systeme versprechen, diese Reibung zu eliminieren.
Die Dual-Use-Falle
Das Gespräch mit meinem französischen Nachbarn wird ernst, als er von seinem Sohn erzählt, einem Offizier bei der Marine. “Die Technologie ist neutral,” sagt er, “aber die Anwendung ist es nicht.” Ein Satz, der das Dual-Use-Dilemma perfekt zusammenfasst, das Jamie in seinem Artikel beschrieben hat.
Jede GPS-freie Navigationstechnologie ist per Definition militärisch nutzbar. Was heute als Logistik-Revolution beginnt, kann morgen als autonome Waffe enden. Das Sprind-Projekt entwickelt offiziell zivile Technologie, aber die Grenze zwischen zivil und militärisch verschwimmt bei autonomen Systemen.
Als jemand, der den Kalten Krieg miterlebt hat, kenne ich die Rhetorik der technologischen Entspannung. “Atoms for Peace”, “Technologie für die Menschheit”, “Innovationen zum Wohle aller” – die Phrasen ändern sich, die Realität bleibt dieselbe. Jeder technologische Durchbruch wird militarisiert, monetarisiert, monopolisiert.
Die Cybersecurity-Dimension
Eine Boe des Mistral lässt mein Notizbuch flattern. Der Wind hier ist unberechenbar, unkontrollierbar, authentisch. Die GPS-freien Drohnen der Zukunft werden ähnlich unberechenbar sein – aber nicht durch Natur, sondern durch Menschenhand.
Jamie hat die Cybersecurity-Risiken angesprochen: Adversarial Attacks, Poisoning-Attacken, Man-in-the-Middle-Angriffe. Was er nicht erwähnt hat, ist die psychologische Dimension. Autonome Systeme, die gehackt werden können, erzeugen eine neue Art der Paranoia. Wenn wir nicht mehr wissen, wer oder was eine Drohne kontrolliert, verlieren wir das Vertrauen in die Technologie selbst.
Als Sozialphobiker kenne ich diese Art der Unsicherheit. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ohne zu wissen von wem. GPS-freie autonome Drohnen könnten diese Unsicherheit universell machen – eine technologisch induzierte Sozialphobie für die gesamte Gesellschaft.
Die Infrastruktur der Freiheit
Der deutsche Tourist mit der GPS-abhängigen Drohne ist inzwischen frustriert abgezogen. Seine Technologie funktioniert nicht in der rauen Realität Korsikas. Die Zukunft gehört den Systemen, die ohne externe Infrastruktur operieren können – aber paradoxerweise eine völlig neue Infrastruktur benötigen.
Jamies Beschreibung der Vertiports und UTM-Systeme erinnert mich an die Eisenbahnrevolution des 19. Jahrhunderts. Damals verwandelte sich die Landschaft durch Schienen, Bahnhöfe, Telegrafenleitungen. Heute verwandelt sie sich durch Datenströme, Funknetze, Serverzentren.
Der Unterschied: Die Eisenbahn war sichtbar, kontrollierbar, demokratisch steuerbar. Die Drohnen-Infrastruktur der Zukunft wird unsichtbar, autonom, algorithmisch gesteuert sein. Eine Infrastruktur, die uns dient, aber die wir nicht verstehen.
Die Grenzen der Kontrolle
Eine Familie am Nachbarstellplatz diskutiert gerade über Privatsphäre. Ihre Kinder wollen Drohnenaufnahmen vom Strand machen, die Eltern sorgen sich über Persönlichkeitsrechte. “Wo endet unser Territorium?”, fragt die Mutter. “Gehört der Himmel über unserem Stellplatz uns oder allen?”
Eine Frage, die philosophischer ist, als sie klingt. Traditionelle Eigentumsrechte sind zweidimensional gedacht. Die Drohnen-Revolution erweitert sie in die dritte Dimension – aber ohne klare Regeln, ohne demokratische Legitimation, ohne gesellschaftlichen Konsens.
GPS-freie autonome Systeme verschärfen dieses Problem exponentiell. Sie können überall operieren, sind schwer zu verfolgen, schwer zu stoppen. Sie verwandeln den Luftraum von einem kontrollierten in einen anarchischen Raum.
Die Poesie der Orientierung
Trotz aller Bedenken kann ich mich der Schönheit dieser Technologie nicht entziehen. Die Vorstellung von Maschinen, die sich wie Vögel orientieren, die den Magnetismus der Erde spüren, die durch Echoortung navigieren – das hat etwas zutiefst Poetisches.
Meine eigene Orientierungslosigkeit in sozialen Situationen lässt mich diese technologische Orientierungsfähigkeit besonders schätzen. Vielleicht entwickeln wir Maschinen, die besser navigieren können als wir – nicht nur räumlich, sondern auch sozial, emotional, ethisch.
Oder vielleicht projizieren wir nur unsere eigenen Sehnsüchte auf Technologie, die diese nie erfüllen kann. Die GPS-freie Drohne mag autonom navigieren können, aber sie wird nie die Unsicherheit kennen, die Zweifel, die produktiven Umwege, die menschliche Navigation auszeichnen.
Epilog: Zwischen Himmel und Algorithmus
Der Mistral lässt nach, die Bucht von Sagone beruhigt sich. In wenigen Stunden werden wieder Drohnen über diese Landschaft fliegen – GPS-abhängig, menschlich kontrolliert, technologisch begrenzt. Die Zukunft, die Jamie beschrieben hat, ist noch fern genug, um sie zu gestalten.
Das Sprind-Projekt ist mehr als ein technologischer Wettbewerb – es ist ein Test für Europas Fähigkeit, Innovation und Verantwortung zu verbinden. Die 500.000 Euro Preisgeld mögen klein erscheinen, aber sie finanzieren möglicherweise eine Revolution.
Eine Revolution, die den Himmel demokratisieren könnte – oder ihn zu einem neuen Schlachtfeld machen. Die Logistik revolutionieren könnte – oder neue Formen der Überwachung schaffen. Die uns von GPS-Abhängigkeit befreien könnte – oder in neue, subtilere Abhängigkeiten führen.
Als ich diese Zeilen beende, kreist wieder eine Möwe über dem Campingplatz. Sie navigiert GPS-frei seit Millionen von Jahren, orientiert sich an Landmarken und Magnetfeldern, folgt Instinkten und Erfahrungen. Ein perfektes Beispiel für autonome Navigation – aber auch für die Grenzen der Analogie zwischen biologischer und künstlicher Intelligenz.
Die Möwe fliegt, weil sie leben muss. Die Drohnen der Zukunft werden fliegen, weil wir es programmiert haben. Der Unterschied zwischen Notwendigkeit und Programmierung könnte über die Zukunft unseres Himmels entscheiden.
Phil Roosen schreibt diese Kolumne vom windigen Camping Les Couchants auf Korsika, wo GPS-Signale launisch sind und autonome Navigation noch ein Traum ist. Seine Kolumne “Digitale Zwischenräume” erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

