Kolumne “Digitale Zwischenräume” - The Digioneer, Donnerstag, 17. Juli 2025

Der Strand von Calvi liegt im Nachmittagsschatten der Zitadelle, und während die Wellen des Mittelmeers sanft über den Kies rollen, lese ich auf meinem Tablet über die deutsche Obsession mit digitaler Souveränität. Die Ironie entgeht mir nicht: Hier sitze ich, physisch souverän auf französischem Boden, digital aber völlig abhängig von US-amerikanischen Clouddiensten – mein iPad synchronisiert mit der iCloud, meine Notizen landen bei Google, mein VPN-Tunnel führt durch Server in Virginia.

Die Lektüre über Stackit und die Schwarz Gruppe fasziniert mich. Christian Müller, der Co-CEO von Schwarz Digits, beschreibt seine “100-prozentige Unabhängigkeit” von US-Clouds mit einem Stolz, der mich an die Rhetorik der Prepper-Bewegung erinnert. Die grauen Wände, der PVC-Boden, die Stickstoff-Löschanlage – es klingt wie ein digitaler Atomschutzbunker für den Daten-Weltkrieg.

Der Mythos der reinen Souveränität

Als diagnostizierter Sozialphobiker verstehe ich das Bedürfnis nach Kontrolle und Abschottung. Aber gerade deshalb erkenne ich auch die Selbsttäuschung, die in diesem Konzept steckt. Digitale Souveränität ist kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Grad der Abhängigkeit, den man verwaltet.

Die Schwarz Gruppe mag ihre Daten in Deutschland hosten, aber die Hardware? Die Prozessoren stammen aus Taiwan, die Festplatten aus Südkorea, die Servergehäuse aus China. Die Software? Linux mag Open Source sein, aber die Entwicklung wird maßgeblich von US-Konzernen finanziert. Die Internetprotokolle? Standardisiert von amerikanischen Institutionen. Die DNS-Server? Größtenteils in US-amerikanischer Hand.

Die Vorstellung, man könne sich vollständig von US-Technologie abkoppeln, ist so naiv wie der Versuch, eine Volkswirtschaft ohne Außenhandel zu betreiben. Wir leben in einer vernetzten Welt, und Vernetzung bedeutet Abhängigkeit – die Frage ist nur, wie viel und von wem.

Das Lidl-Paradox

Ausgerechnet die Schwarz Gruppe, die ihre Marktdominanz auf globale Lieferketten und Kostenoptimierung aufgebaut hat, predigt nun digitale Autarkie. Lidl, ein Konzern, der seine Produkte aus aller Welt bezieht und seine Logistik auf maximale Effizienz trimmt, will plötzlich beim Thema Daten Selbstversorger werden.

Diese Doppelmoral ist symptomatisch für die deutsche Debatte um digitale Souveränität. Solange es um Tomaten aus Spanien oder Smartphones aus China geht, sind wir stolze Globalisten. Aber bei Daten werden wir plötzlich zu digitalen Nationalisten.

Die Realität ist: Stackit ist nicht souverän, sondern nur anders abhängig. Statt von Amazon Web Services ist man nun abhängig von europäischen Zulieferern, von deutschen Gesetzen, von der politischen Stabilität der EU. Das mag in manchen Bereichen vorteilhaft sein, aber es ist nicht “Souveränität”.

Die Illusion der Kontrollierbarkeit

Besonders amüsant ist Müllers Erklärung über die komplexen Datenwege: Ein iPhone, das auf deutsche Server zugreift, könnte amerikanische Bits und Bytes “mitbringen”. Diese kafkaeske Vorstellung von Daten, die ihre Nationalität wie einen Reisepass mit sich führen, zeigt die Absurdität des ganzen Konzepts.

Daten haben keine Nationalität. Sie sind Informationen – neutral, universell, grenzüberschreitend. Der Versuch, sie zu “nationalisieren”, ist so sinnvoll wie der Versuch, das Alphabet zu territorialisieren. Ja, Daten können unter verschiedene Rechtssysteme fallen, aber das ist ein juristisches, kein technologisches Problem.

Der wahre Preis der Abschottung

Die Kosten der digitalen Autarkie verschweigt die Stackit-Werbung geflissentlich. Wer ausschließlich auf deutsche Cloud-Dienste setzt, zahlt nicht nur höhere Preise, sondern verzichtet auch auf Innovation. Die großen US-Anbieter investieren jährlich Milliarden in Forschung und Entwicklung. Ihre KI-Services, ihre Skalierbarkeit, ihre Ausfallsicherheit – all das ist das Ergebnis eines Innovationsökosystems, das Deutschland schlicht nicht replizieren kann.

Die 84 Prozent der deutschen Unternehmen, die von der Bundesregierung mehr Engagement für digitale Souveränität fordern, sollten sich fragen: Wollen sie wirklich in einer digitalen Planwirtschaft leben? Wollen sie staatlich subventionierte, aber technologisch zweitklassige Lösungen? Oder wollen sie die besten verfügbaren Tools für ihr Geschäft?

Die Hybris der Unabhängigkeit

Gregor Schumacher vom Thinktank Cloud Ahead spricht von “zwölf Millionen relevanten Softwareprogrammen”, von denen ein Großteil aus den USA stamme. Seine Lösung: “politische Maßnahmen vonseiten der Bundesregierung”.

Hier offenbart sich die wahre Motivation hinter der Souveränitätsdebatte. Es geht nicht um Sicherheit oder Datenschutz. Es geht um Kontrolle und Protektionismus. Um die Illusion, man könne die Globalisierung in einem Bereich rückgängig machen, der von seiner Natur her global ist.

Die Wahrheit ist: Software wird dort entwickelt, wo die besten Köpfe und das meiste Kapital zusammenkommen. Das ist momentan das Silicon Valley, morgen vielleicht Shenzhen oder Bangalore. Wer sich davon abkoppelt, koppelt sich vom technologischen Fortschritt ab.

Vom Strand aus betrachtet

Die Sonne steht bereits tief über dem Mittelmeer, und der Schatten der Zitadelle wird länger. Während ich diese Zeilen auf meinem amerikanischen Tablet schreibe, das über französische Mobilfunknetze mit irischen Servern kommuniziert, um meine Gedanken in einer deutschen Publikation zu veröffentlichen, wird mir die Absurdität der Souveränitätsdebatte bewusst.

Wir leben in einer vernetzten Welt, und das ist ein Segen, kein Fluch. Die Herausforderung liegt nicht darin, uns von dieser Vernetzung zu befreien, sondern sie klug zu nutzen. Das bedeutet: Risiken verstehen, Alternativen schaffen, Abhängigkeiten diversifizieren.

Aber vor allem bedeutet es: Vertrauen statt Paranoia, Kooperation statt Abschottung, Innovation statt Protektionismus. Die Zukunft gehört nicht den digitalen Nationen, sondern den digitalen Nomaden – jenen, die sich die besten Lösungen von überall holen und sie intelligent kombinieren.

Stackit mag ein solider deutscher Cloud-Anbieter sein, aber die Vorstellung, er sei ein Weg zur digitalen Souveränität, ist eine Illusion. Die wahre Souveränität liegt in der Erkenntnis, dass wir alle voneinander abhängig sind – und dass das okay ist.

Phil Roosen schreibt diese Kolumne vom Strand von Calvi aus, physisch souverän auf französischem Boden, digital aber hoffnungslos vernetzt mit der ganzen Welt. Seine Kolumne “Digitale Zwischenräume” erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

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