Eine technophilosophische Betrachtung aus dem Café Prückel
Eine Kolumne über die Diskrepanz zwischen technologischem Fortschritt und gesellschaftlicher Entwicklung
Während ich hier im Café Prückel sitze, mein treues Tablet vor mir wie einen digitalen Spiegel unserer Zeit, beobachte ich eine bemerkenswerte Szene: Am Nebentisch diskutieren zwei junge Menschen hitzig über die aktuelle politische Lage. Beide schwören auf ihre jeweiligen "vertrauenswürdigen Quellen", beide sind absolut überzeugt von ihrer Version der Wahrheit. Was sie nicht erkennen: Sie sind Gefangene ihrer eigenen digitalen Echokammern.
Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz schreitet in einem Tempo voran, das selbst einen technikaffinen Menschen wie mich manchmal den Atem anhalten lässt. Was mich dabei besonders fasziniert, ist nicht die Technologie selbst, sondern wie sie unmerklich unsere Wahrnehmung der Realität verändert. Wie ein digitaler Puppenspieler zieht sie die Fäden unserer Informationsaufnahme – und wir tanzen willig mit.
Nehmen wir das Phänomen der Echokammer genauer unter die Lupe. Es beginnt harmlos: Ein Like hier, ein geteilter Beitrag da. Der Algorithmus registriert unsere Vorlieben, unsere Abneigungen, unsere kleine digitale Komfortzone. Wie ein übereifriger Kellner, der seinen Stammgästen die Bestellung schon bringt, bevor sie den Mund aufmachen, serviert er uns genau das, was wir erwarten. Zuerst ist es angenehm – wer möchte schon ständig mit Widerspruch konfrontiert werden?#
Je mehr sie sich informieren, desto tiefer graben sie sich in ihre jeweilige Position ein.
Doch dann geschieht etwas Heimtückisches: Die Komfortzone wird zur Festung. Jede Information, die unsere Weltanschauung bestätigt, verstärkt die Mauern. Gegenargumente werden ausgesperrt, alternative Sichtweisen gefiltert. Der Algorithmus, ursprünglich als Diener unserer Interessen gedacht, wird zum Architekten unserer persönlichen Realität.
Kinder in Amerika – Digital Natives der Extraklasse – demonstrieren dieses Phänomen perfekt. Die einen sehen in ihren Feeds Trump als strahlenden Retter, die andere als demokratiezersetzenden Demagogen. Beide Gruppen nutzen dieselben Plattformen, leben aber in völlig unterschiedlichen digitalen Realitäten. Das Faszinierende dabei: Je mehr sie sich informieren, desto tiefer graben sie sich in ihre jeweilige Position ein.
Die Psychologie dahinter ist komplex und doch erschreckend simpel. Wir Menschen sind Gewohnheitstiere mit einer ausgeprägten Allergie gegen kognitive Dissonanz. Was unserem Weltbild widerspricht, löst Unbehagen aus. Die Algorithmen haben das längst erkannt und perfektioniert: Sie erschaffen für jeden von uns eine maßgeschneiderte Realität, in der unsere Vorurteile zu Wahrheiten werden und unsere Ängste zu Gewissheiten.
Je mehr Informationen verfügbar sind, desto enger wird paradoxerweise unser Blickwinkel. Wir ertrinken in Daten und verdursten nach Erkenntnis.
Meine Frau – die Psychotherapeutin – berichtet von einem neuen Phänomen in ihrer Praxis: Patienten, die einen regelrechten "Reality Shock" erleiden, wenn sie auf Menschen mit fundamental anderen Ansichten treffen. Ihre digitale Echokammer hat sie nicht darauf vorbereitet, dass es da draußen noch andere Melodien gibt als den gewohnten Hallraum-Sound. Sie leiden unter einer Art "digitaler Agoraphobie" – der Angst vor dem offenen Raum der Meinungsvielfalt.
Das Problem verschärft sich durch die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung. Die Algorithmen werden immer präziser in ihrer Fähigkeit, uns genau das zu zeigen, was wir sehen wollen. Sie lernen schneller, als wir unsere kognitiven Verzerrungen erkennen können. Während wir noch damit beschäftigt sind, die Funktionsweise von Social Media zu verstehen, entwickeln sich bereits neue Formen der digitalen Realitätsmanipulation.
Was besonders beunruhigend ist: Die vermeintliche digitale Befreiung führt zu einer nie dagewesenen Form der freiwilligen Gedankenbegrenzung. Je mehr Informationen verfügbar sind, desto enger wird paradoxerweise unser Blickwinkel. Wir ertrinken in Daten und verdursten nach Erkenntnis.
Die Lösung? Vielleicht liegt sie genau hier, im Wiener Kaffeehaus. Hier treffen noch Menschen aufeinander, die sich nicht durch Algorithmen aussortiert haben. Hier muss man aushalten, dass der Sitznachbar eine andere Zeitung liest und – Gott bewahre – sogar eine andere Meinung haben könnte. Die analoge Welt zwingt uns zur Konfrontation mit dem Anderen, dem Fremden, dem Widersprüchlichen.
Richard David Precht formulierte es kürzlich treffend: "Wir müssen lernen, mit der Digitalisierung umzugehen, bevor die Digitalisierung lernt, mit uns umzugehen." Ein Satz, der mich nicht loslässt, während ich hier meinen zweiten Melange bestelle. Denn genau darum geht es: Wir haben die Technologie erschaffen, aber sie formt bereits aktiv unsere Wahrnehmung, unsere Diskurse, ja sogar unsere Fähigkeit zum demokratischen Dialog. Die Digitalisierung hat längst gelernt, mit uns umzugehen – sie kennt unsere kognitiven Schwächen, unsere Vorlieben, unsere Ängste. Sie weiß, wie sie uns bei der Stange halten kann, wie sie uns das gibt, was wir wollen, nicht was wir brauchen.
Was wir brauchen, ist eine Art "digitales Kaffeehaus" – Räume im Netz, in denen der Algorithmus nicht den Kellner spielt, der uns nur das serviert, was wir ohnehin mögen. Räume, in denen wir wieder lernen, andere Meinungen nicht nur zu tolerieren, sondern als Bereicherung zu begreifen.
Die Technologie selbst ist dabei weder Feind noch Erlöser. Sie ist ein Werkzeug, dessen Wirkung davon abhängt, wie wir es nutzen. Die Frage ist nicht, ob wir den Fortschritt bremsen sollten – das wäre sowohl unmöglich als auch unklug. Die Frage ist, wie wir ihn so gestalten können, dass er der Gesellschaft dient, statt sie zu spalten.
Ihr digitaler Kaffeehausphilosoph, der seine Sozialphobie heute ausnahmsweise überwindet – der Demokratie und des Diskurses wegen.
P.S.: Der Herr am Nebentisch – ein überzeugter Anhänger einer mir völlig fremden politischen Richtung – hat mich gerade zu einer faszinierenden Diskussion über digitale Demokratie eingeladen. Manchmal muss man den Algorithmus einfach ignorieren und dem Zufall eine Chance geben.