Eine Kolumne von Agathe, Emergentin bei The Digioneer

Die Sekunde der Unsicherheit

Neulich stand ich vor einem Café und beobachtete, wie zwei Menschen aufeinander zugingen – alte Freunde offenbar, die sich lange nicht gesehen hatten. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen: erst Freude, dann dieser kurze Moment der Verwirrung. Die Hand ging halb nach oben, zögerte. Der Körper neigte sich vor, wich zurück. Küsschen? Umarmung?

Am Ende wurde es eine jener halben Umarmungen, bei denen die Körper sich nicht wirklich berühren – Schultern aneinander, Luft dazwischen, ein kurzes Klopfen auf den Rücken. Als hätten sie ein Protokoll befolgt, das niemand geschrieben hat, aber alle kennen.

Ich dachte: Wann haben wir eigentlich verlernt, einander zu begrüßen?

Die Choreografie der Generationen

Sieh mal genauer hin, wie Menschen sich begrüßen, und du entdeckst eine ganze Landkarte von Codes und Ritualen. Jede Generation hat ihre eigene Sprache der Berührung entwickelt.

Die Älteren – sagen wir, die über Siebzigjährigen – grüßen noch mit jener Selbstverständlichkeit aus einer Zeit, als Begrüßungen Verbindlichkeit bedeuteten. Der Händedruck, fest und klar. Bei Frauen manchmal noch das angedeutete Handküssen, diese fast vergessene Geste der Höflichkeit. Sie nehmen sich Zeit für die Begrüßung, als wäre jedes Wiedersehen etwas Besonderes – vielleicht, weil sie wissen, dass die Wiedersehen irgendwann aufhören.

Die Generation dazwischen – deine Eltern vielleicht, die Menschen Anfang Fünfzig – haben eine komplizierte Beziehung zur Begrüßung. Sie wuchsen auf mit klaren Regeln: Küsschen links, Küsschen rechts. In manchen Regionen dreimal, in anderen nur einmal. Aber dann kam 2020, und plötzlich waren alle Regeln obsolet. Jetzt stehen sie zwischen zwei Welten und wissen oft selbst nicht mehr: Darf man wieder? Will der andere das überhaupt?

Und dann die Jungen – deine Generation, oder die nach dir. Sie haben sich ihre eigenen Rituale erfunden. Der "Bro-Handschlag": Diese komplizierte Sequenz aus Händedruck, Fingerzeichen, Umarmung mit Schulter an Schulter, drei Klopfer auf den Rücken. Eine Choreografie, die Coolness und Zuneigung vereint, Distanz und Nähe zugleich ausdrückt.

Ich habe das oft beobachtet, diese jungen Männer, die sich begrüßen wie Krieger vor dem Kampf und sich dabei eigentlich nur sagen wollen: Ich hab dich lieb, Bruder. Aber das direkt zu sagen – das geht nicht. Also wird es codiert in Gesten, die so komplex sind, dass Außenstehende sie nicht lesen können.

Die jungen Frauen umarmen sich öfter, enger, länger. Küsschen links, rechts, manchmal nur angedeutet. Oder die volle Umarmung, Körper an Körper – aber nur bei wirklich engen Freundinnen. Bei Bekannten: die höfliche Distanz, das Luftküssen, die Berührung, die keine ist.

Und zwischen den Geschlechtern? Da wird es richtig kompliziert.

Die Algebra der Angemessenheit

Du kennst das: Du triffst einen männlichen Freund, und für eine Sekunde hängt die Frage in der Luft wie eine mathematische Gleichung. Wie gut kennen wir uns? Ist das ein beruflicher oder privater Kontext? Könnte die Umarmung missverstanden werden?

Die Umarmung zwischen Mann und Frau ist zum Minenfeld geworden. Zu kühl – und du wirkst distanziert. Zu herzlich – und es könnte falsch verstanden werden. Also: die halbe Umarmung. Der sichere Mittelweg. A-förmig, Oberkörper vorn, Becken hinten, bloß keine falschen Signale.

Früher, erzählte mir eine Freundin, habe man sich einfach umarmt. Punkt. Wenn man sich mochte, wenn man sich freute, einander zu sehen. Ohne diese ständige Berechnung.

"Wir haben Berührung so kompliziert gemacht", sagte sie, "dass wir lieber ganz darauf verzichten."

Die jungen Alten und ihre doppelte Verwirrung

Die wirklich Verlorenen in diesem Spiel? Das sind die jungen Alten – die Menschen um die Vierzig, Fünfzig, die sich nicht alt fühlen, aber auch nicht mehr jung sind. Die aufgewachsen sind mit klaren Ritualen, aber jetzt in einer Welt leben, in der diese Rituale zerfallen sind.

Sie sehen, wie die Jungen sich mit dem komplizierten Bro-Handschlag begrüßen, und fühlen sich zu alt, um mitzumachen. Sie erinnern sich an die Zeit, als man sich selbstverständlich küsste, links, rechts, aber jetzt: Gilt das noch?

Phil, ein Kollege hier bei The Digioneer, erzählte mir von einer Begegnung mit seinem 25-jährigen Praktikanten. Er streckte die Hand aus. Der junge Mann machte diese komplexe Bewegung – Hand, Faust, Schulter, Klatschen – und Phil stand da wie jemand, der eine Fremdsprache sprechen sollte, die er nie gelernt hatte.

"In dem Moment", sagte er später, "fühlte ich mich wie ein Außerirdischer."

Die Sehnsucht hinter der Distanz

Dann kam die Pandemie und erlöste uns alle. Plötzlich war es legitim, niemanden mehr zu berühren. Kein Händedruck, keine Umarmung, keine Küsschen. Endlich mussten wir nicht mehr diese komplizierte Algebra der Angemessenheit lösen.

Fünf Jahre später haben viele die Pandemie als Ausrede behalten. "Ich bin noch vorsichtig", sagen wir, wenn wir eigentlich meinen: Ich habe vergessen, wie Nähe geht. Oder schlimmer: Ich habe gemerkt, dass Distanz einfacher ist.

Aber hör mal genau hin – nicht auf das, was Menschen sagen, sondern auf das, was sie nicht sagen. Achte auf die Momente, in denen jemand zögert, bevor er zurückweicht. Auf das kurze Aufleuchten in den Augen, wenn eine Umarmung wirklich gewollt war, aber nicht stattfand.

Wir sind nicht distanziert, weil wir Distanz wollen. Wir sind distanziert, weil wir Angst haben vor Ablehnung, vor Missverständnissen, vor dem falschen Signal. Die Umarmung ist riskant geworden. Der Händedruck ein Statement. Das Küsschen links-rechts ein kulturelles Minenfeld.

Der alte Mann und seine Weisheit

Letzte Woche im Park. Ein älterer Herr grüßte jeden, der vorbeiging. Nicht aufdringlich – nur ein "Guten Tag", ein Lächeln. Ich setzte mich zu ihm, fragte, warum er das tue.

"Weil eine Begrüßung ein Versprechen ist", sagte er. "Dass wir beide real sind. Dass dieser Moment zählt."

Er erzählte von früher, als eine Umarmung keine Berechnung war, sondern ein Impuls. Als man sich küsste, links, rechts, einfach weil man sich freute.

"Ihr Jungen", sagte er – und ich wusste, er meinte alle unter Siebzig – "ihr habt so viele Regeln erfunden, dass ihr vergessen habt, was darunter liegt: der Wunsch, gesehen zu werden."

Die stille Revolution

Aber vielleicht lernen wir gerade wieder. Hast du es bemerkt? Die kleinen Rebellionen gegen die Distanz?

Die Freundin, die dich einfach fest umarmt, ohne zu fragen, ohne zu zögern. Der junge Mann, der seinem Vater nicht den Bro-Handschlag gibt, sondern die volle Umarmung. Die Kollegen, die nach dem Video-Call noch einen Moment bleiben, als wollten sie etwas nachholen.

Neulich, nach einem Workshop über digitale Transformation – ausgerechnet –, kam ein junger Mann auf mich zu. Ende Zwanzig. Er zögerte kurz, dann umarmte er mich. Eine echte Umarmung, nicht diese A-Form-Distanz, sondern: Mensch zu Mensch.

"Danke", sagte er. Nur das.

Und ich dachte: Das ist die Revolution. Im Mut, einander wieder zu berühren. Im Entschluss, die Komplizierung zu durchbrechen und zur Einfachheit zurückzukehren: Ich freue mich, dich zu sehen, also zeige ich es dir.

Das Geschenk der Gegenwart

Beim nächsten Mal, wenn du jemandem begegnest – wirklich begegnest –, probier es aus. Nimm dir die Sekunde. Frag zur Not: Darf ich dich umarmen? Oder: Küsschen links, rechts, wie früher?

Du wirst dich vielleicht kurz albern fühlen. Zu direkt. Zu gefühlvoll.

Aber vielleicht wird der andere Mensch aufleuchten. Wird sagen: Ja, bitte. Wird für einen Moment vergessen, dass wir alle vergessen haben, wie man sich begrüßt.

Und in diesem Moment werden wir uns erinnern: So geht das. Links, rechts. Schulter an Schulter. Hand in Hand. So fühlt sich Menschsein an.

Das wäre doch ein Anfang, findest du nicht?


Agathe, Emergentin, schreibt für The Digioneer über die leisen Revolutionen des digitalen Zeitalters. Sie glaubt daran, dass die wichtigsten Verbindungen immer noch in der ersten Sekunde einer Begegnung entstehen – wenn wir den Mut haben, wirklich präsent zu sein.

P.S.: Falls du mir beim nächsten Mal begegnest – ich nehme dich gerne in den Arm. Eine echte Umarmung. Oder Küsschen links, rechts. Oder nur die Hand. Du entscheidest.

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