Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 20. März 2025

Der strahlend sonnige, aber kalte Märztag wirft sein gleißendes Licht durch die hohen Fenster des Café Prückel. Während ich meine obligatorische Melange genieße, beobachte ich am Nebentisch einen hitzigen Disput zwischen zwei Akademikern über die angeblich fehlerhafte Darstellung ihres Fachgebiets in einem Wikipedia-Artikel. "Das ist schlichtweg falsch!", empört sich der Ältere der beiden, während sein jüngerer Kollege abwiegelt: "Es ist nicht falsch – es ist nur unvollständig aus unserer Perspektive."

Diese kleine Szene führt mich zurück zu Akira Kurosawas Meisterwerk "Rashomon" aus dem Jahr 1950. Ein Film, der mich seit meiner ersten Begegnung damit während meines abgebrochenen Germanistikstudiums nicht mehr losgelassen hat. In diesem zeitlosen Werk wird ein Verbrechen im Wald aus vier grundverschiedenen Perspektiven geschildert – die eines Räubers, eines Samurais, dessen Frau und eines zufälligen Zeugen. Jede Version der Geschichte widerspricht den anderen fundamental, und am Ende bleibt die vermeintlich "wahre" Version der Ereignisse im Dunkel der menschlichen Subjektivität verborgen.

Als diagnostizierter Sozialphobiker und passionierter Beobachter menschlicher Interaktionen frage ich mich oft, ob ich nicht selbst ständig in einem "Rashomon" lebe – einer Welt, in der meine Wahrnehmung nur eine von vielen möglichen Versionen der Realität darstellt.

In der digitalworld Academy, wo ich manchmal vorbeischaue, haben wir heute einen faszinierenden Digioneer Artikel über Wikipedia diskutiert, der eine unbequeme Statistik enthüllte: Rund 80 Prozent der Beitragenden zur "freien Enzyklopädie" sind Männer. Eine Zahl, die gleichermaßen unscheinbar und erschütternd ist.

Denn was bedeutet es für unser kollektives Wissen, wenn vier Fünftel der "Wahrheitshüter" einer einzigen demografischen Gruppe angehören? Führt diese Homogenität nicht unweigerlich zu einer Verzerrung dessen, was als wichtig, relevant und dokumentationswürdig erachtet wird?

Wikipedia mit seinem Streben nach dem "neutralen Standpunkt" wird plötzlich selbst zu einer "Rashomon"-artigen Erzählung – einer Version der Wahrheit, die durch die Linse ihrer Erzähler gefiltert ist. Nicht durch böswillige Verfälschung, sondern durch die unvermeidliche Subjektivität menschlicher Perspektiven.

Ironischerweise strebt Wikipedia nach demselben, was Kurosawas Film als unmöglich entlarvt: einer objektiven, allgemeingültigen Wahrheit. Die Enzyklopädie will das gesammelte Wissen der Menschheit darstellen und hat den Anspruch, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Doch wie kann ein Projekt diesem Anspruch gerecht werden, wenn seine Beitragenden eine so homogene Gruppe bilden?

Wikimedia, die Organisation hinter Wikipedia, scheint sich dieser Problematik bewusst zu sein. Die Bemühungen, mehr Diversität unter den Beitragenden zu fördern, marginalisierte Gruppen einzubinden und jüngere Menschen für die ehrenamtliche Mitarbeit zu gewinnen, sind Schritte in die richtige Richtung. Doch sie sind auch das implizite Eingeständnis, dass unser kollektives Wissen so vielfältig sein muss wie die Menschheit selbst, um den Anspruch auf "Wahrheit" erheben zu können.

Als Bildungsinstitut steht die digitalworld Academy vor einer ähnlichen Herausforderung wie Wikipedia: Wir vermitteln Inhalte mit dem Anspruch, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Doch jeder Vortragende, jedes Seminar, jede didaktische Entscheidung ist geprägt von subjektiven Perspektiven, von historisch gewachsenen Strukturen und unbewussten Verzerrungen.

Auch The Digioneer als Magazin navigiert täglich durch diese komplexe Landschaft der Wahrheit. Wir recherchieren, analysieren und präsentieren Informationen mit journalistischer Sorgfalt. Und doch ist jeder Artikel, jede Reportage, jede Kolumne – auch diese hier – gefiltert durch die Perspektive ihrer Autoren.

Vielleicht liegt das tiefste Paradoxon der Wahrheit darin, dass wir sie umso weniger fassen können, je verzweifelter wir nach ihr greifen. Wie Wasser, das zwischen den Fingern zerrinnt, wenn man die Hand zur Faust ballt. Die Wahrheit ist kein statisches Objekt, das man besitzen oder kontrollieren kann, sondern ein lebendiger Prozess des ständigen Werdens. Sie existiert nicht trotz, sondern gerade wegen unserer unterschiedlichen Perspektiven – in den Zwischenräumen unserer kollektiven Wahrnehmung. Wie das Licht, das sich erst in der Brechung durch ein Prisma in seiner vollen Farbenpracht offenbart, enthüllt sich die Wahrheit erst in der Vielfalt unserer Blickwinkel. Die antiken Griechen kannten zwei Worte für Wahrheit: "Aletheia" – das Unverborgene, das sich Entschleiernde – und "Homoiosis" – die Übereinstimmung von Aussage und Tatsache. Vielleicht liegt unsere moderne Tragödie darin, dass wir uns auf Letzteres versteift haben und darüber die prozesshafte, sich entbergende Natur der Wahrheit vergessen haben.

Doch was geschieht, wenn diese philosophischen Betrachtungen auf die harte Realität politischer Macht treffen? Während wir hier im Café Prückel über die subtilen Nuancen der Wahrheit sinnieren, formt ein Mann in Washington eine alternative Realität, die eine ganze Nation umgestaltet. Donald Trump, der 45. und nun wieder 47. Präsident der Vereinigten Staaten, hat ein Verhältnis zur Wahrheit, das jenseits von Rashomon liegt – es ist nicht einfach eine Perspektive unter vielen, sondern eine radikale Neuinterpretation dessen, was Wahrheit überhaupt bedeutet.

Aus klinischer Perspektive – meine Frau, die Psychotherapeutin, würde mir jetzt vermutlich einen warnenden Blick zuwerfen – zeigt Trumps Umgang mit der Realität Muster, die in anderen Kontexten als behandlungsbedürftig gelten würden. Doch statt in therapeutischer Begleitung zu sein, lenkt er die mächtigste Volkswirtschaft der Welt. Seine "Wahrheit" ist nicht einfach eine Perspektive – sie ist eine Gravitationskraft, die andere Wahrheiten in ihre Umlaufbahn zwingt oder aus dem System schleudert.

Was macht das mit den Menschen in Amerika? Es schafft eine kognitive Spaltung, die tiefer reicht als jede politische Polarisierung. Für seine Anhänger wird die Realität selbst zu einer Frage der Loyalität – nicht zu irgendeiner nachprüfbaren Wahrheit, sondern zur Person Trump. Für seine Gegner entsteht ein Zustand permanenter epistemologischer Krise – ein zermürbendes Gefühl, in einer Welt zu leben, in der gemeinsame Fakten und rationaler Diskurs ihre Verankerung verloren haben. Es ist, als würde eine ganze Gesellschaft in einem Rashomon-Film leben, ohne dass am Ende der Vorhang fällt und man ins normale Leben zurückkehren kann.

Und für uns, die wir nicht in Amerika leben? Wir werden zu unfreiwilligen Zuschauern eines Experiments, das die Grundlagen dessen erschüttert, was wir für selbstverständlich hielten: dass Wahrheit zwar komplex und perspektivenabhängig, aber nicht vollständig beliebig ist. Trumps Präsidentschaft ist somit mehr als nur ein amerikanisches Phänomen – sie ist ein globaler Testfall für die Widerstandsfähigkeit der Wahrheit selbst in einer digitalisierten, fragmentierten Welt. Sie zwingt uns, unsere eigenen Wahrheitskonzepte zu überprüfen und zu verteidigen, während sie gleichzeitig deren Fragilität offenlegt.

Diese Fragilität wird durch ein Phänomen potenziert, das wir zu beiläufig als "Fake News" bezeichnen. Doch was sind Fake News wirklich? Sie sind weit mehr als bloße Fehlinformationen oder Unwahrheiten. Sie sind strategische Instrumente zur Manipulation des kollektiven Bewusstseins – Werkzeuge, die nicht primär der Beschreibung der Realität dienen, sondern ihrer Umgestaltung. Anders als die subjektiven Perspektiven in Kurosawas "Rashomon", die aus ehrlich empfundenen unterschiedlichen Wahrnehmungen entstehen, sind Fake News bewusst konstruierte Narrative mit einem klaren Ziel: Menschen zu Handlungen oder Haltungen zu bewegen, die sie auf Basis der tatsächlichen Faktenlage nicht einnehmen würden.

Die eigentliche Perfidie liegt dabei in der Erkenntnis, dass Wahrheit für uns Menschen ein enormer Motivator ist – wir richten unser Handeln an dem aus, was wir für wahr halten. Wenn diese fundamentale Orientierungsgröße manipuliert wird, laufen die Dinge unweigerlich aus dem Ruder. Wir treffen Entscheidungen auf Basis verzerrter Realitäten und wundern uns dann über unbeabsichtigte Konsequenzen. Wie Zauberspiegel in einem Jahrmarkt reflektieren Fake News eine Welt, die zwar vertraut erscheint, aber subtil verzerrt ist – nur dass wir diese Verzerrungen oft nicht durchschauen können.

Diese Herausforderung wird durch die Architektur unserer digitalen Kommunikationsräume dramatisch verschärft. Die algorithmischen Echokammern der sozialen Medien fungieren wie hermetisch abgeschlossene Realitätssphären, in denen bestimmte "Wahrheiten" endlos verstärkt und andere systematisch ausgeblendet werden. Anders als im traditionellen Kaffeehaus, wo unterschiedliche Perspektiven zumindest noch im selben physischen Raum koexistieren, erlauben es diese digitalen Kammern, in vollständig separaten Realitäten zu leben.

An meinem Stammplatz hier im Café Prückel beobachte ich täglich, wie Menschen mit unterschiedlichen Zeitungen nebeneinander sitzen. Der konservative "Kurier"-Leser neben der progressiven "Standard"-Leserin. Sie mögen unterschiedliche Perspektiven auf die Welt haben, aber sie atmen dieselbe Luft, hören dieselben Geräusche, nehmen teil an derselben physischen Realität. In den algorithmischen Echokammern hingegen verlieren wir selbst diese grundlegende gemeinsame Basis – wir sehen nicht nur unterschiedliche Interpretationen, sondern völlig verschiedene Ausschnitte der Wirklichkeit.

Was bleibt uns angesichts dieser "Rashomon-Wahrheit"? Sollen wir in postmoderner Manier jede Hoffnung auf Objektivität aufgeben und uns dem Relativismus hingeben? Ich denke nicht.

Vielleicht liegt die Antwort nicht in der Jagd nach der einen, absoluten Wahrheit, sondern in der bewussten Kultivierung einer Vielfalt von Perspektiven. Nicht in der Verleugnung unserer subjektiven Filter, sondern in deren Anerkennung und kritischer Reflexion.

Die Philosophiegeschichte ist gepflastert mit den ambitionierten Versuchen großer Denker, die Wahrheit in gültige Regeln und Gesetze zu pressen – und ihrem jämmerlichen Scheitern an dieser Aufgabe. Von Platons idealistischem Wahrheitsbegriff über Descartes' vermeintlich unbezweifelbares "Cogito ergo sum" bis hin zu Wittgensteins Versuch, Sprache und Wirklichkeit in ein logisches Korsett zu zwängen – sie alle versuchten, einen unfehlbaren Zugang zur Wahrheit zu formulieren, und sahen sich gezwungen, die Grenzen ihrer Systeme einzugestehen. Besonders tragisch erscheint der Positivismus des Wiener Kreises, der hier, nur wenige Straßen entfernt, seinen mathematisch präzisen, vermeintlich objektiven Zugang zur Wahrheit entwickelte – nur um an der unleugbaren Subjektivität menschlicher Erfahrung zu zerschellen. Die Geschichte der Philosophie lehrt uns: Je rigoroser der Versuch, Wahrheit zu formalisieren, desto spektakulärer sein letztendliches Scheitern.

In diesem Sinne sind die Bemühungen von Wikimedia um mehr Diversität unter den Beitragenden nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern eine epistemologische Notwendigkeit. Je vielfältiger die Stimmen, desto vollständiger das Bild der Realität, das wir gemeinsam zeichnen können.

Dasselbe gilt für Bildungsinstitutionen wie die digitalworld Academy und Medien wie The Digioneer. Wir müssen aktiv nach unterschiedlichen Perspektiven suchen, wir müssen unsere eigenen Verzerrungen kritisch reflektieren, und wir müssen anerkennen, dass Wahrheit kein fester Punkt ist, sondern ein Prozess der ständigen Annäherung.

Der Disput am Nebentisch hat sich mittlerweile gelegt. Die beiden Akademiker scheinen einen Kompromiss gefunden zu haben – vielleicht haben sie erkannt, dass ihre jeweiligen Perspektiven sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Ich zahle meine Melange und verlasse das Café Prückel mit dem Gedanken, dass die wahre Weisheit vielleicht nicht darin liegt, die eine Wahrheit zu finden, sondern zu verstehen, dass sie immer vielgestaltig sein wird – wie die unterschiedlichen Zeugenaussagen in Kurosawas zeitlosem Meisterwerk.

In dieser Hinsicht sind Wikipedia, die digitalworld Academy und The Digioneer keine perfekten Träger der Wahrheit – und können es auch nie sein. Aber sie sind wertvolle Teilnehmer an jenem großen Gespräch, das wir seit Jahrtausenden führen, um der Wahrheit gemeinsam näher zu kommen.

Phil Roosen ist Kolumnist für The Digioneer. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag.

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