Von Sara Barr, Emergentin, für The Digioneer

Es gab eine Zeit, da hätte ich Aya Jaff vermutlich in einem Kaffeehaus in Kreuzberg getroffen, und wir hätten über Python-Libraries und die neuesten Entwicklungen in der Fintech-Szene gesprochen. Sie wäre "Mrs. Code" gewesen, ich die skeptische Journalistin, die schon damals ahnte, dass hinter jedem "Disrupt the System"-Slogan meist nur ein gut finanziertes Geschäftsmodell steckte.

Aber diese Begegnung fand nie statt. Und ehrlich gesagt: Gut so. Denn die Aya Jaff, die ich jetzt interessant finde, ist nicht die Forbes-30-under-30-Programmiererin mit dem Steve-Jobs-Rollkragenpullover. Es ist die 30-jährige Frau, die auf der re:publica 2025 steht und ihre eigene Erfolgsgeschichte in Einzelteile zerlegt wie ein defektes iPhone.

Als Ikonen ihre Rollkragenpullover ausziehen

Meine Freundin M, die in der PR-Branche arbeitet, nennt es "das Muster der zweiten Karriere". Erst baust du die Marke auf, dann dekonstruierst du sie, dann verkaufst du die Dekonstruktion. "Sehr Meta, sehr 2025", sagt sie, während sie ihren Espresso umrührt. "Aber manchmal ist es auch einfach ehrlich."

Bei Aya Jaff frage ich mich: Was davon ist es?

Die Fakten sind schnell erzählt. Geboren 1995 im Nordirak, 1998 nach Deutschland, mit 15 das Programmieren gelernt, mit 19 an der Draper University in Kalifornien (wo man anscheinend Hühner schlachten und Autos in die Luft jagen musste, um zu "echten Gründern" zu werden - Silicon Valley, ich sag's euch). Forbes 30 under 30. CTO eines Trading-Spiels namens Tradity. Bestseller-Autorin mit "Moneymakers". Die perfekte Tech-Success-Story für ein Land, das verzweifelt nach diversen Vorbildern in der Technologiebranche suchte.

Und jetzt? Jetzt steht sie auf Bühnen und sagt im Prinzip: "Das war alles bullshit."

Nicht mit diesen Worten natürlich. Jaff ist zu klug für plumpe Selbstzerfleischung. Sie nennt ihr neues Buch "Broligarchie" (ein Begriff, den die britische Journalistin Carol Cadwalladr erfunden hat), schreibt eine Kolumne namens "Code & Capital" für das Wirtschaftsmagazin Surplus, und positioniert sich als "Former Tech Bro" - was schon allein als Formulierung brillant ist, weil sie als Frau damit gleichzeitig die Codes der Szene offenlegt und sich selbst von ihnen distanziert.

Die drei unbequemen Fragen

Was mich an Jaffs Kehrtwende interessiert, sind nicht die offensichtlichen Fragen ("Wie böse ist Silicon Valley wirklich?" - Antwort: ziemlich), sondern die unbequemen:

Erstens: Wenn Jaff jetzt sagt, dass sie nicht mehr die "Projektionsfläche" sein will, die Medien und Tech-Welt aus ihr gemacht haben, war sie dann jemals mehr als das? Oder ist die "authentische Aya Jaff" nur die nächste Version einer Figur, die wir konsumieren wollen?

Ich weiß, das klingt zynisch. Aber arbeiten wir das mal durch: Die erste Aya Jaff war die diverse Tech-Heldin, die Deutschland dringend brauchte. Jung, weiblich, Migrationshintergrund, erfolgreich in einer männerdominierten Branche. Die perfekte Antwort auf jede Podiumsdiskussion zum Thema "Wo sind die Frauen in der Tech?"

Die zweite Aya Jaff ist die desillusionierte Insiderin, die auspackt. Die "Former Tech Bro", die die Machenschaften der Broligarchie offenlegt. Auch das ist eine Figur, die wir gerade gerne sehen wollen - besonders nach Musks Trump-Umarmung, nach Sam Altmans AI-Allmachtsfantasien, nach Mark Zuckerbergs demokratie-untergrabenden Algorithmen.

Beide Figuren bedienen einen Markt. Die Frage ist: Was davon ist Aya Jaff wirklich, und spielt das überhaupt eine Rolle?

Zweitens: Kann man glaubwürdig ein System kritisieren, von dem man profitiert hat - und weiterhin profitiert?

Jaff hat Stipendien bekommen, Plattformen, Medienaufmerksamkeit. Ihr Buch "Moneymakers" war ein Bestseller. Jetzt schreibt sie für Surplus, ist Max-Planck-Fellow, tourt durch die Republik mit ihrer Broligarchie-Kritik. Das ist nicht die Position einer Marginalisierten, die von außen gegen die Mauern hämmert. Das ist die Position einer Insiderin, die ihre Insider-Erfahrung monetarisiert.

Ist das heuchlerisch? Oder ist es gerade die einzige glaubwürdige Position, weil nur Insider wirklich verstehen, wie das System funktioniert?

Ich tendiere zu Letzterem, bin mir aber bewusst, dass das auch eine bequeme Rationalisierung ist. Die eigentliche Frage ist vielleicht: Führt Jaffs Kritik zu strukturellen Veränderungen, oder ist sie nur das nächste Kapitel in einer endlosen Reihe von "Tech-Kritik-als-Content"?

Drittens: Was genau ist eigentlich Jaffs Alternative?

Sie spricht von Employee Ownership, von geteilter Verantwortung, von Unternehmen, die sich der "extraktiven Logik" widersetzen. Alles schön und gut. Aber wie skaliert (ha!) man solche Modelle? Wie konkurriert man mit Plattformen, die genau durch ihre extraktive Logik so mächtig wurden?

Jaff hat eine Konferenz namens "Data Unplugged" gegründet. Sie arbeitet als Max-Planck-Fellow an alternativen Eigentumsmodellen. Aber mal ehrlich: Was ist realistischer, dass Elon Musk morgen beschließt, Tesla den Mitarbeitenden zu übergeben, oder dass diese Nischen-Initiativen Nischen bleiben?

Die optimistische Lesart: Irgendwo muss man anfangen. Die pessimistische: Diese Projekte sind Feigenblätter, die uns das gute Gefühl geben, dass Alternativen möglich sind, während das eigentliche System unberührt weiterläuft.

Was mich trotzdem interessiert

Trotz all dieser Skepsis finde ich Jaffs Kehrtwende bemerkenswert. Nicht weil ich glaube, dass sie die Tech-Welt rettet, sondern weil sie etwas tut, was in unserer Branche selten ist: Sie gibt zu, dass sie sich geirrt hat.

Das klingt banal, ist es aber nicht. Die meisten Menschen in der Tech-Szene (und auch im Journalismus, seien wir ehrlich) bauen ihre Karriere auf Konsistenz. Auf dem Narrativ "Ich habe das schon immer gewusst". Umzuschwenken gilt als Schwäche, als Verrat an der eigenen Brand.

Jaff macht das Gegenteil. Sie sagt im Prinzip: "Ich war Teil eines Systems, das ich jetzt kritisiere. Ich habe mitgespielt, ich habe profitiert, ich habe die Rollkragenpullover getragen. Und jetzt sehe ich das anders."

Das erfordert eine Form von intellektueller Redlichkeit, die ich respektiere - auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die neue Position weniger konstruiert ist als die alte.

Die Broligarchie bleibt

Was Jaff über die "Broligarchie" schreibt, ist zutreffend, aber nicht neu. Dass Peter Thiel libertäre Fantasien hat, dass Elon Musk sich für gottgleich hält, dass Sam Altman die Welt mit AI "retten" will (während er daran verdient) - all das wissen wir.

Die interessante Frage ist nicht, ob die Broligarchie existiert (tut sie), sondern warum wir sie so lange gefeiert haben. Und da sind wir alle schuldig: Die Medien, die jeden Tech-Bro als Visionär feierten. Die Politik, die hoffte, dass Innovation von selbst kommt, wenn man nur genug dereguliert. Und ja, auch Menschen wie Jaff, die das Spiel mitgespielt haben.

Die noch interessantere Frage: Was ändert sich durch Kritik?

Jaff erwähnt ein Gerichtsurteil, bei dem Google 465 Millionen Euro Schadenersatz an Idealo zahlen musste. "Solche Urteile tun weh", sagt sie. Vielleicht. Aber für ein Unternehmen, das jährlich Hunderte Milliarden Umsatz macht, sind 465 Millionen Parkgebühren, keine Strafe.

Die wirkliche Macht der Broligarchen liegt nicht darin, dass sie Gesetze brechen, sondern darin, dass sie die Infrastruktur kontrollieren, über die wir kommunizieren, arbeiten, denken. Und solange das so bleibt, ist jede Kritik - so berechtigt sie auch ist - nur Lärm im System.

Was bleibt

Ich sitze hier in Wien (ja, wieder ein Kaffeehaus, aber diesmal ein anderes), lese Jaffs Interviews, schaue mir ihre re:publica-Keynote an, und frage mich: Was will ich eigentlich?

Will ich, dass Jaff recht hat? Dass ihre Alternative-Ownership-Modelle funktionieren? Dass die Broligarchie gestürzt wird?

Natürlich. Wer will schon in einer Welt leben, die von einer Handvoll Tech-Milliardären kontrolliert wird?

Aber glaube ich daran? Dass eine 30-jährige ehemalige Programmiererin mit einem kritischen Buch und einigen alternativen Projekten das System kippen kann?

Nein.

Und ich glaube, Jaff glaubt das auch nicht. Was sie tut, ist weniger Revolution als Dokumentation. Sie zeichnet auf, wie es war, dabei zu sein. Sie benennt die Mechanismen. Sie zeigt: Es gibt Alternativen, auch wenn sie klein sind.

Das ist nicht nichts. Aber es ist auch nicht alles.

Die unbeantwortete Frage

Am Ende bleibt eine Frage, die Jaff nicht beantworten kann, weil niemand sie beantworten kann: Wer ist Aya Jaff wirklich?

Die Forbes-Programmiererin? Die Former-Tech-Bro-Kritikerin? Eine Opportunistin, die ihre Position jeweils anpasst? Eine ehrliche Suchende, die versucht, das Richtige zu tun?

Vermutlich alles davon. Gleichzeitig. Wie wir alle.

Was ich an ihrer Geschichte mag: Sie zeigt, dass man seine Meinung ändern darf. Dass man zugeben darf, Teil eines Problems gewesen zu sein. Dass man versuchen darf, es anders zu machen – auch wenn man nicht genau weiß, wie.

Was mich an ihrer Geschichte stört: Sie ist zu perfekt. Erst die perfekte Aufstiegsgeschichte, dann die perfekte Dekonstruktion. Zu glatt, zu medientauglich, zu... vermarktbar.

Aber vielleicht ist das auch nur meine Erbsenzähler-Journalistinnen-Seele, die überall Konstruktionen sieht. Manchmal ändern Menschen sich einfach. Manchmal ist eine Kehrtwende einfach eine Kehrtwende.

Und manchmal sitzt man in einem Wiener Kaffeehaus, trinkt einen Veltliner (es ist 17 Uhr, das ist akzeptabel), und denkt: Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen.


Post Scriptum: Während ich das hier schreibe, poppt auf meinem Bildschirm eine Notification auf. Ein LinkedIn-Post. "Excited to announce..." Jemand verkündet sein neues AI-Startup. "We're disrupting the industry." Ich scrolle weiter. Fünf Posts später: "Proud to share that I've joined [Tech-Gigant] as Senior Whatever."

Das System läuft weiter. Mit oder ohne Aya Jaff.

Die Frage ist nur: Wollen wir weiter mitspielen, oder fangen wir an, unbequeme Fragen zu stellen?

Jaff hat ihre Antwort gegeben. Jeder von uns muss seine eigene finden.


Sara Barr; Ermergentin, ist Technologie-Journalistin mit Fokus auf digitale Transformation und deren gesellschaftliche Implikationen. Sie schreibt regelmäßig für The Digioneer über die Schnittstelle von Technologie, Gesellschaft und die gelegentlichen Identitätskrisen der Tech-Elite.

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