
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 26. Juni 2025
Um acht Uhr morgens ist das Büro noch angenehm kühl, aber draußen kündigt sich bereits ein heißer Sommertag an. Wien zeigt sich von seiner schwülen Seite, und ich weiß, dass mich heute Nachmittag im Burgenland noch deutlich höhere Temperaturen erwarten – ein Besuch bei meiner Mutter zum 86. Geburtstag steht an, zusammen mit meinen erwachsenen Kindern. Daher die frühe Stunde am Schreibtisch, während die Stadt noch nicht vollständig erwacht ist.
Vor mir auf dem Monitor flimmern die neuesten Nachrichten über Mira Muratis spektakuläre Rückkehr in die KI-Arena. Die 36-jährige albanisch-amerikanische Ingenieurin, die als Chief Technology Officer bei OpenAI maßgeblich an ChatGPT und DALL-E mitgewirkt hat, bevor sie im September 2024 überraschend kündigte, meldet sich mit einem eigenen Unternehmen zurück. 2 Milliarden Dollar Seed-Finanzierung, 10 Milliarden Dollar Bewertung, ein Team aus OpenAI-Veteranen – die Zahlen sind so überwältigend wie die Versprechungen, die sie begleiten. Und während die ersten Büroarbeiter bereits schwitzend an den Fenstern vorbeilaufen, studiere ich die wohlklingenden Phrasen von Thinking Machines Lab.
We're building AI systems that push technical boundaries while delivering real value to as many people as possible. Our team combines rigorous engineering with creative exploration.
"KI-Systeme verständlicher, anpassbarer und leistungsfähiger machen" – so lautet das offizielle Mantra. Eine Formulierung, die in ihrer wohlklingenden Unverbindlichkeit an die Wahlversprechen von Politikern erinnert. Wer wäre schließlich gegen "verständlichere" KI? Wer würde "weniger anpassbare" Systeme fordern?
Als diagnostizierter Sozialphobiker habe ich ein feines Gespür für die Rhetorik des Versprechens entwickelt – jene elegante Kunst, große Erwartungen zu wecken, ohne konkrete Verpflichtungen einzugehen. Und genau das beobachte ich bei Muratis neuem Unternehmen: viel Vision, wenig Substanz. Viel über Möglichkeiten, nichts über Grenzen.
Der Generationenblick: Zwischen Weisheit und Disruption
Während draußen die ersten Touristen bereits in Sommerkleidung durch die noch schattigen Straßen wandeln, schweift mein Blick zum anstehenden Familientreffen im Burgenland. Meine Mutter wird 86 – eine Generation, die den Wandel von der analogen zur digitalen Welt bewusst miterlebt hat. Meine Kinder werden auch dabei sein, die sogenannten "Digital Natives", für die KI bereits so selbstverständlich ist wie für mich einst das Telefon.
Drei Generationen, drei völlig verschiedene Perspektiven auf Technologie. Was würde meine Mutter zu Muratis Versprechungen sagen? Vermutlich das, was sie schon über jede neue Technologie gesagt hat: "Schau ma mal, was dabei rauskommt." Meine Kinder hingegen werden wahrscheinlich fragen: "Warum dauert das so lange?"
Diese gesunde Skepsis der älteren Generation und die pragmatische Ungeduld der jüngeren fehlen mir bei der aktuellen KI-Euphorie. Die albanisch-amerikanische Ingenieurin ist zweifellos brillant. Ihre Zeit bei OpenAI, ihr technisches Verständnis, ihre Führungsqualitäten – all das steht außer Frage. Aber gerade deshalb beunruhigen mich die Lücken in ihrer öffentlichen Kommunikation. Was sie nicht sagt, ist mindestens so aufschlussreich wie das, was sie proklamiert.
Die Leerstellen des Fortschritts
Wo sind die ethischen Leitplanken? Wo die Diskussion über Missbrauchspotentiale? Wo die Reflexion über gesellschaftliche Auswirkungen? Stattdessen lese ich von "Human-KI-Zusammenarbeit" und "Unternehmenskunden" – Begriffe, die in ihrer technokratischen Glätte jede kritische Frage zu umschiffen scheinen.
Die Klimaanlage im Büro surrt leise vor sich hin, ein kleiner Vorgeschmack auf die Energieprobleme, die uns KI bescheren wird. Während Murati von effizienteren Systemen spricht, verschweigt sie, dass jede KI-Anfrage mehr Strom verbraucht als eine Google-Suche. Rechenzentren, die ganze Stadtteile mit Energie versorgen könnten, nur um uns zu sagen, welche E-Mail wir als nächstes schreiben sollen.
Die Finanzierungsrunde selbst erzählt eine bemerkenswerte Geschichte. Andreessen Horowitz, die Apostel des "Move Fast and Break Things"-Evangeliums, führen eine Investition an, die selbst für Silicon Valley-Verhältnisse gigantisch ist. 2 Milliarden Dollar für ein Unternehmen ohne Produkt, ohne detaillierte Roadmap, ohne öffentliche Rechenschaftspflicht. Es ist Venture Capitalism in seiner reinsten, unverdünntesten Form.
Besonders pikant: Die albanische Regierung als Investor. Ein kleines Balkanland, das sich mit einer KI-Investition auf die technologische Weltkarte setzen will. Eine rührende Geschichte, die aber auch Fragen aufwirft: Welche politischen Erwartungen sind mit dieser Beteiligung verbunden? Welche geopolitischen Implikationen hat es, wenn Staaten in private KI-Entwicklung investieren?
Macht ohne Kontrolle
Das Schweigen über Regulierung und Selbstkontrolle in Muratis Kommunikation ist bemerkenswert. Während Europa mit dem AI Act zumindest den Versuch unternimmt, der KI-Entwicklung ethische Leitplanken zu geben, scheint das neue Unternehmen in einer regulationsfreien Zone operieren zu wollen. Die Governance-Struktur, die Murati die Kontrolle über das Unternehmen sichert, mag aus unternehmerischer Sicht clever sein – gesellschaftlich ist sie bedenklich.
Wer kontrolliert die Kontrolleurin? Diese klassische Frage der Demokratietheorie stellt sich bei Muratis Unternehmen in aller Schärfe. Wenn eine einzelne Person mit absoluter Macht über ein Unternehmen verfügt, das möglicherweise Artificial General Intelligence entwickelt, dann haben wir ein systemisches Problem. Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut – auch bei den brillantesten Köpfen.
Die Ironie dabei: Murati verspricht "menschlichere" KI, während sie gleichzeitig ein Unternehmen aufbaut, das jeden demokratischen Kontrollmechanismus umgeht. Sie will KI "zugänglicher" machen, während sie mit Milliardeninvestitionen die Konzentration von KI-Macht in den Händen weniger Superreicher vorantreibt.
Die Weisheit der analogen Generation
Mein Blick schweift zum Fenster, wo bereits die ersten Geschäftsleute in aufgeknöpften Hemden vorbeieilen. Der Sommer in Wien kann erbarmungslos sein, und die Temperaturen werden es sicher sein. Ein passender Hintergrund für die Betrachtung eines Unternehmens, das mit der Hitze seiner eigenen Versprechungen zu kämpfen haben könnte.
Ich denke an meine Mutter, die heute 86 wird und noch nie eine KI-Anwendung bewusst genutzt hat. Sie verwaltet ihre Termine handschriftlich in einem Kalender, schreibt ihre Einkaufslisten auf Papier und telefoniert, wenn sie jemanden erreichen will. Eine analoge Existenz in einer digitalisierten Welt – und sie funktioniert erstaunlich gut.
Meine Kinder werden vermutlich schmunzeln, wenn sie Oma dabei zusehen, wie sie mühsam ihre Brille sucht, um eine Telefonnummer im gedruckten Telefonbuch nachzuschlagen. Für sie ist das Museum, für mich ist es ein Erinnerung daran, dass Effizienz nicht alles ist.
Das trojanische Pferd der Benutzerfreundlichkeit
Muratis Vision einer "verständlicheren" KI könnte sich als Trojanisches Pferd erweisen. Je verständlicher, je zugänglicher, je nutzerfreundlicher die Technologie wird, desto bereitwilliger werden wir sie in unsere intimsten Lebensbereiche integrieren. Desto abhängiger werden wir von Systemen, deren Funktionsweise wir nicht verstehen, deren Ziele wir nicht kontrollieren, deren Auswirkungen wir nicht absehen können.
Das wahre Problem bei Thinking Machines Lab ist nicht die Technologie selbst – es ist die Art, wie diese Technologie vermarktet wird. Als Lösung für Probleme, die wir vielleicht gar nicht haben. Als neutrales Werkzeug, das ausschließlich zum Nutzen der Menschheit entwickelt wird. Als evolutionärer Schritt, dem wir uns nicht entziehen können.
Diese Rhetorik der Unvermeidlichkeit ist typisch für die Tech-Industrie. "KI wird kommen, ob wir wollen oder nicht", lautet das Mantra. "Wir können nur entscheiden, ob wir dabei sind oder zurückbleiben." Eine falsche Dichotomie, die demokratische Meinungsbildung durch technologischen Determinismus ersetzt.
Der heiße Nachmittag der Wahrheit
Die Temperatur draußen steigt bereits merklich. Wien verwandelt sich langsam in einen Backofen, und ich stelle mir vor, wie es am Nachmittag am Neusiedlersee sein wird. Meine Mutter wird vermutlich im Schatten ihrer Wohnung sitzen, einen kalten Eistee trinken und sich über die Hitze beschweren – ganz fernab von KI-Assistenten, der ihr die optimale Kühlungsstrategie vorschlägt.
Meine Kinder werden ihre Smartphones zücken, um ihr die neueste Wetter-App zu zeigen, die präzise vorhersagt, wann die Hitze nachlassen wird. Und ich werde zwischen diesen Welten stehen – zu alt für naive Technikbegeisterung, und viel zu neugierig für Technikverweigerung.
Die 2 Milliarden Dollar, die in Thinking Machines Lab fließen, sind nicht nur eine Investition in Technologie. Sie sind eine Wette auf eine bestimmte Vision der Zukunft – eine Zukunft, in der KI-Systeme zunehmend menschliche Entscheidungen übernehmen, in der Effizienz über Autonomie triumphiert, in der technologische Lösungen wichtiger werden als demokratische Teilhabe.
Zwischen den Generationen
Mira Murati ist ohne Zweifel eine beeindruckende Persönlichkeit. Ich habe stundenlang ihre YouTube-Interviews verfolgt, ihre eloquenten Antworten auf komplexe technische Fragen bewundert, ihre authentische Art geschätzt, über die Verantwortung von KI-Entwicklern zu sprechen. Ihre technische Kompetenz, ihr unternehmerischer Mut, ihre Vision einer KI-durchdrungenen Zukunft – all das verdient Respekt.
Gerade deshalb bin ich enttäuscht. Nicht über ihre Fähigkeiten, sondern über das, was ich in der Kommunikation rund um Thinking Machines Lab vermisse. Die Murati, die ich in den Interviews erlebt habe, sprach von ethischen Überlegungen, von gesellschaftlicher Verantwortung. Wo ist diese Stimme jetzt? Respekt ist nicht dasselbe wie blindes Vertrauen. Und Vertrauen haben wir gegenüber Thinking Machines Lab bisher nur einen Grund: den Glauben an die Selbstregulierung der Märkte und die Weisheit der Investoren.
Vielleicht übersehe ich etwas. Vielleicht werden die ethischen Leitplanken später nachgereicht, wenn das Produkt konkreter wird. Ich hoffe es – für eine Frau, die ich eigentlich sehr schätze.
Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, und die ersten Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, obwohl die Klimaanlage läuft. Ein Vorgeschmack auf den Tag, der vor mir liegt. Während ich diese Zeilen beende, freue ich mich auf das Wiedersehen mit meiner Mutter – an jemanden, der 86 Jahre fernab von KI-Assistenten gelebt hat und trotzdem ein erfülltes Leben führt.
Heute werden drei Generationen an einem Tisch sitzen. Meine 86-jährige Mutter, die noch Briefe mit der Hand schreibt. Meine Kinder, die mit ChatGPT leben. Und ich, gefangen zwischen beiden Welten, ein neugieriger Beobachter des Wandels.
Vielleicht ist das die wichtigste Lektion: Nicht jede Effizienzsteigerung ist ein Gewinn. Nicht jede Innovation bedeutet Fortschritt. Und manchmal ist die beste Technologie diejenige, die wir bewusst nicht nutzen – wie meine Mutter, die 86 Jahre lang bewiesen hat, dass ein gutes Leben auch fernab algorithmischer Optimierung möglich ist.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus seinem Büro, bevor die Hitze des Tages und der Besuch bei seiner Mutter im Burgenland anstehen – zusammen mit seinen Kindern, die drei Generationen von Technikverständnis an einem Tisch vereinen werden. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.