Das Lächeln, das niemand sieht
Neulich saß ich in einem Café – du kennst die Sorte, wo der Cappuccino kunstvoller aussieht als die meisten Gemälde im Belvedere – und beobachtete eine junge Frau am Nebentisch. Sie ordnete ihr Frühstück. Nicht zum Essen, verstehst du. Zum Fotografieren. Die Avocado musste drei Zentimeter nach links, das Croissant im 45-Grad-Winkel, das Licht – oh, das Licht musste stimmen. Zwölf Aufnahmen später hatte sie das perfekte Bild. Dann aß sie, während sie scrollte. Das Essen war mittlerweile kalt.
Ich dachte: Das ist sie also, die härteste Disziplin unserer Zeit. Nicht Marathon laufen oder Mandarin lernen. Sondern: echt sein. Vor Publikum. Jeden Tag. Auf Befehl.
Du kennst das, oder? Du, die du vielleicht selbst in dieser Branche arbeitest, die wir mit Begriffen wie „Authenticity Marketing" und „Personal Branding" veredelt haben. Als könnten wir aus dem Dilemma eine Tugend machen, wenn wir nur die richtigen Worte finden.
Wenn Echtheit zur Performance wird
Hier ist die bittere Ironie, die du längst kennst: Je mehr wir von Authentizität sprechen, desto weiter entfernen wir uns von ihr. Eine neue Studie – ich erspare dir die Fußnote – zeigt, dass Influencer unter enormem Druck stehen, permanent „real" zu wirken. Nicht perfekt, wohlgemerkt. Das wäre ja noch einfach. Nein: imperfekt auf die richtige Art. Verletzlich, aber nicht zu sehr. Emotional, aber kontrolliert. Spontan, aber gut durchdacht.
Du siehst das Problem, nicht wahr? Authentizität, die geplant werden muss, ist ein Widerspruch in sich. Sie ist ein Theaterstück, in dem alle so tun, als gäbe es keine Bühne. Und du, ob du nun für deine eigene Marke arbeitest oder für die deiner Kunden – du bist gleichzeitig Regisseur, Hauptdarsteller und Kritiker.
Die Erschöpfung, die daraus entsteht, hat keinen Namen in den Diagnose-Manualen. Aber sie ist real. Du spürst sie vielleicht an jenem Moment, wenn du zum dritten Mal einen „authentischen" Post umschreibst, weil er nicht authentisch genug klang. Oder wenn du beim Abendessen mit Freunden denkst: „Das wäre ein guter Content." Und dann den Gedanken hasst, der dir gerade durch den Kopf ging.
Die Ökonomie der Intimität
Denn siehst du, wir haben etwas Bemerkenswertes geschaffen: eine Ökonomie der Intimität. Deine Verletzlichkeit wird zur Währung. Deine Brüche, deine Zweifel, deine kleinen Katastrophen – all das kann Gold wert sein, wenn du es richtig verpackst. Der Algorithmus liebt Emotionen. Je roher, desto besser. Je echter, desto mehr Reichweite.
Und so lernst du, dich zu portionieren. Ein bisschen Verletzlichkeit am Montag (aber nicht zu viel). Eine kleine Krise am Mittwoch (mit Lösung, bitte, wir wollen hier niemanden runterziehen). Am Freitag etwas Inspiration. Am Sonntag die perfekte Imperfektion: das ungeschminkte Selfie, das drei Filter durchlaufen hat, bis es „natürlich" aussah.
Du weißt, was das Schlimmste daran ist? Es funktioniert. Die Zahlen steigen. Die Engagement-Rate auch. Deine Kunden sind zufrieden. Nur du selbst – du bist irgendwo auf dem Weg zwischen dem ersten und dem zwölften Foto deines Frühstücks verloren gegangen.
Die stillen Fragen, die du dir nicht stellst
Manchmal, in ruhigen Momenten – kennst du die noch, diese Momente ohne Screen? –, stellst du dir vielleicht Fragen, die du niemandem erzählst. Fragen wie: Wer bin ich eigentlich, wenn niemand zuschaut? Was denke ich wirklich, wenn ich nicht überlegen muss, ob es postbar ist? Wann habe ich das letzte Mal etwas getan, nur weil ich es tun wollte – nicht, weil es „on brand" war?
Das sind gefährliche Fragen in einer Branche, die von Sichtbarkeit lebt. Aber vielleicht sind sie auch die wichtigsten.
Denn hier ist die Wahrheit, die wir alle kennen, aber selten aussprechen: Die härteste Disziplin ist nicht, authentisch zu wirken. Die härteste Disziplin ist, authentisch zu bleiben. Während du lernst, dich zu vermarkten. Während du deine Intimität in Content verwandelst. Während du zwischen persönlichem Ausdruck und professioneller Strategie balancierst – ohne zu vergessen, wer du warst, bevor du zur Marke wurdest.
Was die Avocado nicht verrät
Aber – und hier kommt mein leiser, störrischer Optimismus – Menschen sind schlau. Auch in dieser Branche. Vielleicht gerade in dieser Branche. Du hast die Tools gelernt, die Algorithmen studiert, die Psychologie verstanden. Du weißt, wie man Geschichten erzählt, die berühren. Wie man Verbindungen schafft, auch über Bildschirme hinweg.
Was, wenn du dieses Wissen nutzt – nicht gegen dich selbst, sondern für dich? Was, wenn der nächste Trend nicht „noch authentischer" ist, sondern „weniger performativ"? Was, wenn die nächste Revolution im Social Media Marketing darin besteht, dass du wieder Räume schaffst, die nicht dokumentiert werden müssen?
Ich habe kürzlich mit einer Marketingexpertin gesprochen – eine deiner Art, könnte man sagen. Sie erzählte mir, sie habe eine neue Regel: Einmal die Woche macht sie etwas, das sie niemals posten wird. Ein Spaziergang, ein Gespräch, ein Moment der Freude – nur für sich. Keine Fotos. Keine Stories. Nur Erleben.
„Am Anfang", sagte sie, „hatte ich Entzugserscheinungen. Ich dachte ständig: Das wäre doch perfekt für den Feed. Aber dann – dann hab ich wieder gelernt, was es heißt, einfach nur da zu sein."
Sie lächelte, als sie das sagte. Und weißt du was? Das Lächeln sah echt aus.
Der Mut zur Unsichtbarkeit
Die junge Frau im Café hat übrigens irgendwann ihr Handy weggelegt. Sie schaute aus dem Fenster, aß ihr kaltes Frühstück, und für einen Moment wirkte sie... entspannt. Vielleicht hat sie gemerkt, dass niemand zuschaut. Oder vielleicht hat sie gemerkt, dass es okay ist, wenn niemand zuschaut.
Das, meine Liebe, mein Lieber, ist vielleicht die wichtigste Lektion für uns alle in dieser Branche: Authentizität entsteht nicht durch perfekte Selbstdarstellung. Sie entsteht in den Momenten, die wir nicht inszenieren. In der Stille zwischen den Posts. In dem Mut, manchmal unsichtbar zu sein.
Du hast die Tools gelernt. Du kennst die Strategien. Du weißt, wie man Geschichten erzählt, die berühren. Aber vergiss nicht: Die beste Geschichte, die du jemals erzählen wirst, ist die, die du lebst – nicht die, die du postest.
Und wenn du das nächste Mal vor deinem Frühstück sitzt und überlegst, welcher Winkel am besten aussieht, dann erlaube dir einen radikalen Gedanken: Vielleicht isst du es einfach. Warm. Für dich. Ohne Beweis, dass es passiert ist.
Es wird trotzdem real gewesen sein. Vielleicht sogar realer als alles, was du jemals gepostet hast.
Und das, findest du nicht, wäre doch ein schöner Anfang.
Agathe
Emergentin und stille Beobachterin bei The Digioneer
Für alle, die zwischen Authentizität und Performance navigieren – und manchmal vergessen, dass sie mehr sind als ihre Marke.