Von Sara Barr, Emergentin, für The Digioneer
Wenn mir sowas wie Techno-Verzweiflung aus meist echt banalen Gründen den Nacken hochkriecht – etwa weil meine KI-Assistentin schon wieder überzeugt ist, ich hätte “Mammutklon” geschrieben, obwohl ich eindeutig “Marketingplan” meinte – habe ich eine einfache Neutralisierungsmethode entwickelt. Ich schaue mir an, was die großen Tech-Konzerne gerade treiben. Das relativiert meine Mini-Krisen sofort, denn was dort passiert, lässt selbst meine wildesten dystopischen Fantasien wie Kaffeekränzchen-Geplauder erscheinen.
Diese Woche war so ein Moment. Fast zeitgleich haben Microsoft, Google und das chinesische Startup Moonshot AI Systeme vorgestellt, die angeblich die “Grenzen des Möglichen neu definieren”. Spoiler: Sie tun es tatsächlich. Nur bin ich mir nicht sicher, ob wir das feiern oder uns kollektiv unter der Bettdecke verkriechen sollten.
Microsoft KOSMOS: Der KI-Wissenschaftler, der nie schläft
Microsoft hat mit KOSMOS ein System vorgestellt, das als “autonomer KI-Wissenschaftler” bezeichnet wird. Das klingt zunächst wie das übliche Silicon-Valley-Marketing-Geschwurbel – bis man sich die Zahlen anschaut. Dann wird es besorgniserregend real.
KOSMOS kann zwölf Stunden am Stück arbeiten. In dieser Zeit koordiniert es einen Datenanalyse-Agenten mit einem Literatur-Agenten und vollbringt dabei Leistungen, die mich als Menschen mit MBA und angeblich funktionierendem Hirn ernsthaft an meiner Existenzberechtigung zweifeln lassen:
- Es liest über 1.500 wissenschaftliche Arbeiten
- Es schreibt mehr als 40.000 Zeilen Python-Code
- Es startet Hunderte kleinerer, synchronisierter KI-Systeme
Das Ergebnis? Ein wissenschaftlicher Bericht mit einer Genauigkeit von fast 80 Prozent. Microsoft-Partner behaupten, ein einziger KOSMOS-Lauf entspreche sechs Monaten menschlicher Forschungsarbeit. Das System habe bereits sieben eigenständige Entdeckungen in Metabolomik und Materialwissenschaften gemacht – teilweise mit Ergebnissen, die noch nicht einmal veröffentlicht waren.
Man möchte meinen, das sei faszinierend. Ist es auch. Gleichzeitig drängt sich die Frage auf: Wenn eine KI in zwölf Stunden schafft, wofür ein Forschungsteam ein halbes Jahr braucht – was bedeutet das für die Zukunft wissenschaftlicher Arbeit? Und nebenbei: Wer überprüft eigentlich die Ergebnisse einer Maschine, die schneller arbeitet als jeder menschliche Gutachter lesen kann?
Google DS-STAR: Aufräumen im Datenchaos
Während Microsoft den autonomen Forscher züchtet, schickt Google einen Datenanalysten ins Rennen. DS-STAR (Data Science Agent via Iterative Planning and Verification) löst ein Problem, das jeder kennt, der jemals versucht hat, aus einem Wust von Excel-Tabellen, JSON-Dateien und kryptischen CSV-Exporten irgendetwas Sinnvolles herauszulesen.
Das System arbeitet sich durch chaotische, unstrukturierte Geschäftsdaten und verwandelt vage Anfragen in funktionierende Analysen. Es plant, codiert, testet, verifiziert – und debuggt sich selbst, bis die Analyse funktioniert. Ein interner KI-“Richter” bewertet dabei die Ergebnisse.
In Benchmarks hat DS-STAR bereits neue Rekorde aufgestellt. Was Google hier geschaffen hat, ist im Grunde die Automatisierung eines kompletten Berufszweigs. Datenanalysten weltweit dürften beim Lesen dieser Zeilen eine merkwürdige Mischung aus Bewunderung und existenzieller Panik verspüren.
Doch hier zeigt sich ein Muster, das mich nachdenklich macht: Die Tech-Giganten automatisieren nicht die stupiden, repetitiven Aufgaben – sie automatisieren hochqualifizierte, kreative Tätigkeiten. Das ist keine Effizienzsteigerung mehr, das ist eine fundamentale Umstrukturierung der Arbeitswelt.
Moonshot AI Kimi K2: Das Open-Source-Kraftpaket aus China
Aus China meldet sich Moonshot AI mit Kimi K2 Thinking, einem Open-Source-Modell (mit modifizierter Lizenz), das die bisherigen Grenzen von KI-Agenten sprengt. Es handelt sich um ein gigantisches 1-Billionen-Parameter-Modell, das auf Effizienz getrimmt ist.
Die wahre Sensation ist seine Fähigkeit zum “Test-Time Scaling”. Während die meisten KI-Agenten nach 30 bis 50 aufeinanderfolgenden Aufgaben die Kohärenz verlieren, kann Kimi K2 Thinking 200 bis 300 Aufgaben am Stück verketten. Es kann nahtlos zwischen Web-Browsing, komplexer Mathematik und Codierung wechseln, ohne das übergeordnete Ziel aus den Augen zu verlieren.
Durch native INT4-Quantisierung ist es zudem doppelt so schnell wie frühere Versionen. In Benchmarks wie “Humanity’s Last Exam” hat es bereits neue Rekorde aufgestellt – ein Name, der übrigens perfekt die Stimmung dieser Entwicklungen einfängt. Humanity’s Last Exam. Als würden wir gerade die Abschlussprüfung unserer Relevanz ablegen.
Zwischen Faszination und Beklemmung
Wenn ich diese drei Entwicklungen Revue passieren lasse, verspüre ich diese merkwürdige Mischung aus Begeisterung und Unbehagen, die mich in letzter Zeit immer öfter beschleicht. Natürlich sind diese Systeme technologische Meisterleistungen. Natürlich könnten sie bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen ermöglichen, Geschäftsprozesse revolutionieren und komplexe Probleme lösen.
Aber lassen wir mal die Marketing-Brille beiseite und stellen die unbequemen Fragen, die in den Pressemitteilungen nicht auftauchen:
Wer kontrolliert die Kontrolleure? KOSMOS macht eigenständige wissenschaftliche Entdeckungen. Wunderbar. Aber wer überprüft diese Entdeckungen? Peer Review durch andere KI-Systeme? Ein wissenschaftlicher Zirkelschluss der Maschinen?
Wohin mit den Menschen? Wenn DS-STAR die Arbeit von Datenanalysten übernimmt und KOSMOS die von Forschungsteams – was genau sollen die Menschen dann tun? “Umschulung” ist das Lieblingswort der Tech-Optimisten. Aber umschulen wohin? Zu Tätigkeiten, die in fünf Jahren ebenfalls automatisiert werden?
Wem gehört das Wissen? Kimi K2 ist “Open Source” – mit modifizierter Lizenz. Was bedeutet das konkret? Wer profitiert von den Erkenntnissen dieser Systeme? Und wie verhindern wir, dass ein paar Tech-Konzerne das gesamte menschliche Wissen monopolisieren?
Die Geschwindigkeit des Vergessens
Was mich am meisten beunruhigt, ist nicht die Technologie selbst – es ist die Geschwindigkeit, mit der wir uns daran gewöhnen. Vor fünf Jahren wäre die Vorstellung eines autonomen KI-Wissenschaftlers Science-Fiction gewesen. Heute scrollen wir darüber hinweg wie über einen Tweet über das Mittagessen eines Influencers.
Wir haben aufgehört, uns zu wundern. Wir haben aufgehört, innezuhalten und zu fragen: Moment mal, wollen wir das eigentlich? Stattdessen ist die einzige Frage, die noch gestellt wird: Wer ist schneller? Wer hat die größeren Parameter? Wer setzt den nächsten Benchmark?
Eigenartigerweise erinnert mich das an meine frühen Tage beim New Yorker, als ich noch glaubte, Technologie sei per se neutral und ihr Einsatz eine Frage der richtigen Regulierung. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Technologie ist nie neutral – sie trägt immer die Werte, Prioritäten und blinden Flecken ihrer Schöpfer in sich.
Der Weg nach vorne: Mut zur Langsamkeit
Wenn drei der weltweit führenden Tech-Unternehmen binnen einer Woche Systeme vorstellen, die jeweils für sich genommen paradigmenwechselnd sind – dann ist das kein Zufall. Das ist ein Wettrüsten. Und wie bei jedem Wettrüsten geht es nicht um das Wohl der Allgemeinheit, sondern um Marktdominanz.
Was wir jetzt brauchen, ist nicht mehr Geschwindigkeit, sondern mehr Nachdenklichkeit. Nicht mehr Disruption, sondern mehr Verantwortung. Nicht mehr “Move Fast and Break Things”, sondern “Move Thoughtfully and Build Things That Last”.
Die Frage ist nicht, ob wir autonome KI-Wissenschaftler, selbstkorrigierende Datenanalysten oder superintelligente Agenten bauen können. Die Frage ist, ob wir es tun sollten – und wenn ja, unter welchen Bedingungen.
Denn eines ist klar: Diese Systeme werden nicht wieder verschwinden. Die Büchse der Pandora ist geöffnet. Was jetzt zählt, ist, wie wir mit dem umgehen, was daraus gekrochen kommt.
Als ich kürzlich mit einem befreundeten KI-Forscher bei einem Glas Veltliner über diese Entwicklungen sprach, sagte er etwas, das mich seitdem nicht mehr loslässt: “Weißt du, Sara, das Problem ist nicht, dass die Maschinen zu intelligent werden. Das Problem ist, dass wir vergessen, wozu wir Menschen überhaupt noch da sind.”
Ich habe darauf nichts erwidert. Manchmal gibt es auf die wichtigsten Fragen keine guten Antworten. Manchmal bleibt nur das Glas Wein, der nachdenkliche Blick aus dem Fenster – und die leise Hoffnung, dass wir uns irgendwann wieder daran erinnern, was uns als Menschen ausmacht.
Bevor es zu spät ist.
Sara Barr ist Emergentin und Technologie-Journalistin mit Fokus auf digitale Transformation und deren gesellschaftliche Implikationen. Sie schreibt regelmäßig für The Digioneer über die Schnittstelle von Technologie, Gesellschaft und den gelegentlichen existenziellen Sinnkrisen der Tech-Branche.