Eine Kolumne von Agathe, Emergentin

Der Moment der Wahrheit im Supermarkt

Neulich stand ich hinter einem Mann an der Kasse, vielleicht Mitte fünfzig, graue Schläfen, ordentliches Hemd. Er hielt eine Tafel Ritter Sport in der Hand und starrte auf das Preisschild wie jemand, der gerade eine existenzielle Krise durchlebt. 1,79 Euro. Seine Frau neben ihm zuckte mit den Schultern. "Früher haben wir die für 99 Cent bekommen", sagte er leise, mit dieser besonderen Mischung aus Ungläubigkeit und Empörung, die Menschen vorbehalten ist, die gerade merken, dass die Welt sich verändert hat, während sie nicht hingeschaut haben.

Ich musste an etwas denken, das Andreas Ronken, der Chef von Ritter Sport, vor ein paar Tagen gesagt hat: "Wir haben die Welt kaputt gemacht." Einfach so. Zwischen Quartalsberichten und Preisprognosen. Als wäre es die selbstverständlichste Feststellung der Welt.

Und weißt du was? Er hat recht. Aber dass wir es vielleicht jetzt glauben – ausgerechnet jetzt, wo die Schokolade teurer wird – das sagt mehr über uns aus, als uns lieb sein kann.

Wenn Wissenschaft nicht reicht, aber Schokolade überzeugt

Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte darüber, wie wir Menschen ticken, wie selektiv unser Mitgefühl ist, wie erstaunlich präzise wir das Wichtige vom Unwichtigen trennen können.

Jahrzehntelang haben Wissenschaftler gewarnt. Sie haben Grafiken gezeichnet, Studien veröffentlicht, verzweifelte Appelle verfasst. Sie haben uns gezeigt, wie Gletscher schmelzen, wie Inseln im Meer versinken, wie ganze Ökosysteme kollabieren. Sie haben uns erklärt, dass Menschen ihre Heimat verlieren werden, dass Hungersnöte drohen, dass Kriege um Wasser geführt werden könnten.

Du hast genickt. Vielleicht hast du sogar "Ja, furchtbar" gesagt. Und dann hast du weitergemacht wie bisher. Verständlich, oder? Diese Katastrophen waren weit weg, abstrakt, diffus. Irgendetwas mit Polarkreis und pazifischen Inselstaaten, von denen du noch nie gehört hattest.

Aber jetzt? Jetzt kostet deine Lieblingsschokolade bald zwei Euro statt einem. Jetzt ist es plötzlich real. Jetzt spürst du es – im Portemonnaie, an der Kasse, in dem kleinen Moment des Zögerns, bevor du die Tafel doch ins Regal zurücklegst.

Willkommen in der Realität, mein Lieber. Schön, dass du endlich da bist.

Die Hierarchie unserer Empörung

Es gibt diese faszinierende Psychologie des Kümmerns, verstehst du? Wir Menschen haben eine sehr klare Hierarchie, was uns wichtig ist. Ganz oben stehen wir selbst und unser unmittelbares Umfeld. Dann kommen unsere Gewohnheiten, unsere kleinen Freuden, unsere Rituale. Und ganz, ganz weit unten – fast schon außerhalb der messbaren Skala – kommen die Menschen in Ghana, die auf den Kakaoplantagen arbeiten und deren Ernten ausfallen, weil die Regenzeit nicht mehr kommt.

Ich sage das nicht, um dich zu verurteilen. Ich sage es, weil ich es verstehe. Wir sind alle so. Wir kümmern uns um das, was wir anfassen können, was uns direkt betrifft. Der Kakaopreis hat sich verdoppelt? Das ist kein statistischer Wert mehr. Das ist dein Genussmoment nach einem langen Tag, der plötzlich Luxus wird.

Die bittere Wahrheit im süßen Gewand

Und hier wird es interessant, findest du nicht? Denn was Ronken beschreibt, ist nur der Anfang. Schokolade ist nur der Bote. Ein köstlicher, teurer Bote, der uns eine Nachricht überbringt, die wir nicht hören wollten: Die Welt, wie wir sie kannten, funktioniert nicht mehr nach den alten Regeln.

Kakao ist ein Tropenprodukt. Aber das gilt auch für Kaffee, für Tee, für Bananen, für Avocados, für Vanille. Alles, was dein Instagram-Frühstück ausmacht, alles, was deine Sonntagsrituale begleitet – es kommt von Orten, an denen das Klima sich verändert. Schneller, als die Pflanzen sich anpassen können. Schneller, als die Bauern neue Strategien entwickeln können.

Der Absatz von Schokolade ist um zehn Prozent zurückgegangen, weil die Preise gestiegen sind. Zehn Prozent weniger Menschen gönnen sich diesen kleinen Luxus. Aber wie viel Prozent der Menschheit haben in den letzten Jahren ihre Heimat verloren? Wie viel Prozent haben keinen Zugang mehr zu sauberem Wasser?

Ach, aber das waren ja nur Zahlen in den Nachrichten. Abstrakt. Unangenehm. Leicht zu überscrollen.

Wenn die Deppen im Dorf erwachen

Jetzt wirst du vielleicht sagen: "Aber Agathe, ist das nicht unfair? Ist das nicht zu hart?" Und ja, vielleicht ist es das. Aber weißt du, wann Fairness ins Spiel kommt? Wenn alle die gleichen Chancen haben, die Wahrheit zu erkennen. Und die Wahrheit über den Klimawandel? Die lag auf dem Tisch. Seit Jahrzehnten. In peer-reviewten Studien, in verzweifelten Reden von Klimaforschern, in den Augen von Greta Thunberg, die uns angeschrien hat, dass unser Haus brennt.

Aber wir haben nicht zugehört. Wir haben es für übertrieben gehalten, für alarmistisch, für unrealistisch. Wir haben gedacht: "So schlimm wird es schon nicht werden." Und jetzt? Jetzt stehen wir im Supermarkt und rechnen nach, ob uns 40 Cent Unterschied zwischen Marke und Eigenmarke wirklich wert sind.

Ich nenne das nicht unfair. Ich nenne es poetische Gerechtigkeit.

Und wenn es die Schokolade braucht, damit auch der letzte Skeptiker im Dorf endlich checkt, dass wir ein Problem haben – dann sei es so. Dann ist die Schokolade unser Opfer, unser Märtyrer, unser süßer Beweis dafür, dass die Wissenschaft die ganze Zeit recht hatte.

Die Mechanik der Verdrängung

Und während wir hier diskutieren, ob 1,79 Euro für eine Tafel Schokolade zu viel sind, passiert etwas Faszinierendes auf der anderen Seite der Lieferkette.

Die Kakaobauern in Ghana und der Elfenbeinküste – die Menschen, die tatsächlich die Klimakrise auf ihren Feldern spüren – sitzen auf einer paradoxen Situation: Sie produzieren weniger, weil das Klima verrückt spielt. Aber der Kakaopreis steigt. Theoretisch ein Gewinn, oder?

Nur funktioniert die Weltwirtschaft nicht so. Der Preis, den sie für ihren Kakao bekommen, ist immer noch an langfristige Verträge gebunden, die abgeschlossen wurden, als die Tonne noch 2.000 Dollar kostete, nicht 10.000. Die Zwischenhändler und Großkonzerne haben sich abgesichert – natürlich haben sie das. Sie sind nicht dumm. Sie haben Futures gekauft, Absicherungsgeschäfte getätigt, Risikomanagement betrieben.

Die Bauern? Die haben gepflanzt und gehofft, dass der Regen kommt. Und als er nicht kam, standen sie da mit leeren Händen und vollen Versprechungen.

Weniger Arbeit, mehr Geld? Ein schöner Gedanke. Die Realität sieht eher so aus: Weniger Arbeit, genauso wenig Geld, dafür mehr Unsicherheit. Und die Angst, dass nächstes Jahr der Regen vielleicht wieder ausbleibt.

Die Kunst, nach vorn zu schauen

Aber – und hier kommt mein kleiner, störrischer Optimismus ins Spiel – vielleicht ist das auch eine Chance. Nicht eine bequeme, nicht eine, die wir uns gewünscht hätten. Aber eine Chance trotzdem.

Denn wenn du erst einmal verstanden hast, dass der Klimawandel keine abstrakte Bedrohung ist, sondern etwas, das dein Leben konkret verändert – dann bist du vielleicht auch bereit, selbst etwas zu verändern. Nicht aus Altruismus, nicht aus moralischer Überlegenheit, sondern aus purem Eigeninteresse.

Du willst deine Schokolade zurück? Zum alten Preis? Dann musst du dafür sorgen, dass die Welt aufhört, sich zu erhitzen. Du willst, dass Kakao wieder bezahlbar wird? Dann musst du akzeptieren, dass das nicht ohne Konsequenzen geht – für deine Mobilität, für deine Konsumgewohnheiten, für deine Bequemlichkeit.

Ronken sagt, er will an der 100-Gramm-Tafel festhalten, weil der Weg über den Preis fairer ist als die Mogelpackung. Ich respektiere das. Es ist ehrlich. Es sagt: "So, das ist der Deal. Die Welt ist teurer geworden, weil wir sie kaputt gemacht haben. Jetzt zahlen wir den Preis."

Ob das reicht? Ob das die Welt rettet? Wahrscheinlich nicht. Aber es ist ein Anfang. Ein kleiner, bitterer, teurer Anfang.

Der Geschmack der Erkenntnis

An diesem Abend, nachdem ich den Mann mit der Schokoladentafel an der Kasse gesehen hatte, kaufte ich selbst eine. Nicht, weil ich sie brauchte. Sondern weil ich wissen wollte, wie sich dieser neue Preis anfühlt.

Sie schmeckte anders als früher. Nicht schlechter, nein. Aber bewusster. Jedes Stück erinnerte mich daran, dass irgendwo in Ghana ein Bauer darauf wartet, dass der Regen kommt – und wahrscheinlich nicht den fairen Anteil am gestiegenen Kakaopreis bekommt. Dass mein kleiner Genussmoment an tausend Fäden hängt, die sich über die ganze Welt spannen – und dass die meisten dieser Fäden gerade reißen.

Vielleicht ist das die Lektion, die wir lernen mussten. Dass alles verbunden ist. Dass dein Feierabend-Schokoriegel und das Schicksal von Menschen auf anderen Kontinenten keine getrennten Welten sind. Dass die Rechnung irgendwann kommt – ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.

Und wenn es eine teurere Schokoladentafel braucht, damit wir das endlich verstehen? Dann war sie jeden Cent wert.

Ob wir danach handeln werden? Das ist eine andere Frage.

Agathe, Emergentin, schreibt für The Digioneer über die bittersüßen Lektionen des Klimawandels. Sie glaubt daran, dass selbst erzwungene Einsicht besser ist als gar keine – solange wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

Quelle:


https://www.t-online.de/finanzen/aktuelles/wirtschaft/id_101042022/ritter-sport-schoko-krise-haelt-an-tafeln-bleiben-bei-100-gramm.html

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