Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 4. Dezember 2025
Der Nieselregen zeichnet kunstvolle Muster auf die Fenster des Café Sperl, während ich meine erste Melange des Tages genieße. Draußen eilen Menschen mit hochgeklappten Krägen durch die nasse Kälte, jeder in seiner eigenen Welt gefangen. Am Nebentisch sitzt ein älterer Herr, der konzentriert die Gesundheitsseite seiner Zeitung studiert. "Wieder ein Wundermittel", höre ich ihn zu seiner Begleiterin murmeln, "die versprechen jedes Jahr das gleiche."
Seine Skepsis erinnert mich an eine Geschichte, die mich seit Tagen nicht loslässt – und die perfekt illustriert, warum wir manchmal die klügsten Datenbanken der Welt ignorieren, während wir verzweifelt nach Antworten in den falschen Richtungen suchen.
2006, ein Krankenhaus in London. Acht junge, gesunde Männer melden sich freiwillig für eine klinische Studie. Das Medikament heißt Theralizumab, ein vielversprechender Immunmodulator, der Autoimmunerkrankungen revolutionieren soll. Die Tierversuche liefen makellos – Ratten, Mäuse, sogar Primaten vertrugen die Substanz problemlos. Was könnte schief gehen?
Neunzig Minuten nach der Infusion explodierte das Immunsystem der Probanden. Ihre Köpfe schwollen an wie Ballons, Organe versagten, der Zytokinsturm fegte durch ihre Körper wie ein unkontrollierbares Feuer. Die Presse taufte es den "Elephant-Man-Trial". Für die Betroffenen war es der Beginn eines lebenslangen Martyriums – Amputationen, neurologische Schäden, zerstörte Existenzen.
Der Kellner bringt mir eine zweite Melange, unaufgefordert. Er kennt meine Gewohnheiten – eine Form des Wissens, die durch jahrelange Beobachtung entstanden ist, nicht durch Algorithmen oder Experimente. Genau hier liegt die Ironie, die mich heute beschäftigt.
Die größte Datenbank, die wir übersehen
Als diagnostizierter Sozialphobiker bin ich ein Experte für Beobachtung aus der Distanz. Während andere aktiv in Situationen eingreifen, beobachte ich, registriere, erkenne Muster. Und genau diese Perspektive lässt mich fragen: Warum tun wir uns so schwer damit, die größte Datenbank der Welt zu nutzen – eine Datenbank, die seit Millionen von Jahren läuft, jeden Tag aktualisiert wird und nebenbei auch noch kostenlos ist?
Ich spreche von der Evolution.
Während Pharmaunternehmen Milliarden in Tierversuche investieren, hat die Natur längst jeden denkbaren Rezeptor, jedes Protein, jeden biologischen Schalter in unzähligen Variationen getestet. Irgendwo auf diesem Planeten läuft ein Mensch herum, dessen Gene exakt das simulieren, was wir mit teuren Medikamenten erreichen wollen. Manche Menschen haben natürliche Knockout-Varianten, die uns zeigen könnten, welche Proteine wir gefahrlos blockieren können. Andere tragen Schutzmutationen, die wie evolutionäre Patentschriften für neue Therapien sind.
Aber wir schauen kaum hin.
Der alte Herr am Nebentisch hat inzwischen seine Zeitung zusammengefaltet. "Weißt du", sagt er zu seiner Begleiterin, "mein Großvater ist 94 geworden, ohne jemals eine Tablette zu nehmen. Der hatte einfach gute Gene." Ein Satz, beiläufig hingeworfen, aber präziser als er ahnt.
Die Landkarte, die uns fehlt
Hier wird es interessant – und hier treffen sich Pharmakologie und digitale Transformation auf überraschende Weise. Denn das Problem ist nicht, dass wir keine Daten haben. Das Problem ist, dass wir die falschen Daten sammeln und die richtigen ignorieren.
Die großen genetischen Datenbanken der Welt sind erstaunlich homogen. Wir sequenzieren hunderttausend Isländer, analysieren britische Biobanken, durchleuchten skandinavische Bevölkerungen. Alles faszinierend, zweifellos. Aber wenn du nach Antworten suchst, die in einer sehr spezifischen evolutionären Geschichte liegen – etwa in Bevölkerungen, die über Jahrtausende anderen Umweltbedingungen, Krankheiten oder Ernährungsformen ausgesetzt waren – dann findest du sie dort nicht.
Es ist, als würden wir eine Weltkarte zeichnen wollen, aber nur Europa vermessen. Die spannendsten Kontinente bleiben weiße Flecken.
Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde hier von "Bestätigungsbias" sprechen – wir suchen dort, wo das Licht am hellsten ist, nicht dort, wo wir die Antworten finden könnten. Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, kenne ich dieses Phänomen gut. Die interessantesten Routen sind selten die bekanntesten. Die wertvollsten Erfahrungen macht man oft fernab der ausgetretenen Pfade.
Der blinde Fleck der Innovation
Draußen hat der Regen nachgelassen, und durch die Wolkendecke bricht ein fahler Dezemberstrahl. Im Café füllt sich langsam mit der Mittagskundschaft – Geschäftsleute, Touristen, Studenten. Jeder von ihnen trägt ein einzigartiges genetisches Erbe in sich, eine individuelle Variation auf dem Thema Mensch.
Die Theralizumab-Katastrophe hätte vermieden werden können. Nicht durch bessere Tierversuche – die waren bereits exzellent. Sondern durch einen einfachen Blick auf genetische Varianten des Rezeptors CD28 in verschiedenen menschlichen Populationen. Hätte man systematisch nach Menschen gesucht, deren Immunrezeptoren bestimmte Variationen aufweisen, hätte man das Risiko erkannt.
Aber dieser Blick wurde nicht geworfen. Stattdessen vertraute man auf Makaken – und übersah, dass ein winziger Unterschied im Rezeptoraufbau katastrophale Folgen haben kann.
Die Ironie ist bitter: Wir leben im Zeitalter von Big Data, KI und maschinellem Lernen. Wir können Millionen von Bildern analysieren, um Katzengesichter zu erkennen. Wir können Sprachmuster identifizieren, die uns eine halbe Sekunde schneller Antworten liefern. Aber die evolutionäre Datenbank der Menschheit – Millionen Jahre biologischer Experimente, dokumentiert in DNA – die lesen wir immer noch wie ein schlecht übersetztes Buch.
Die Frage nach dem Warum
Am Nebentisch bestellt der ältere Herr nun doch einen Einspänner. Seine Begleiterin lächelt: "Du mit deinen Prinzipien gegen Tabletten, aber beim Zucker hört's auf." Eine kleine, liebevolle Spitze, die mich schmunzeln lässt.
Aber sie berührt auch den Kern der Frage: Warum akzeptieren wir manche Daten und ignorieren andere? Warum investieren wir Milliarden in immer raffiniertere Tiermodelle, während wir die natürlichen Humanexperimente, die uns die Evolution liefert, kaum beachten?
Ich vermute, es liegt an derselben menschlichen Hybris, die ich in meinen Kolumnen immer wieder thematisiere – dieser unerschütterliche Glaube, dass das, was wir aktiv tun, wertvoller ist als das, was wir beobachten können. Dass das Labor wichtiger ist als die Landschaft. Dass Innovation bedeutet, etwas Neues zu erfinden, statt das Alte besser zu verstehen.
Als Sozialphobiker habe ich gelernt, dass manchmal die beste Intervention die Nicht-Intervention ist. Das aufmerksame Beobachten, das geduldige Warten, das Erkennen von Mustern, bevor man eingreift. Die Evolution praktiziert genau diese Geduld seit Jahrmilliarden. Vielleicht sollten wir von ihr lernen.
Die digitale Parallele
Und hier schließt sich der Kreis zu meinem eigentlichen Thema – der digitalen Transformation. Denn das gleiche Muster zeigt sich überall: Wir bauen komplexe Systeme, ohne die natürlichen Systeme zu verstehen, die bereits existieren. Wir entwickeln KI-Algorithmen, ohne menschliche Kognition wirklich zu begreifen. Wir schaffen soziale Netzwerke, ohne soziale Dynamiken ernst zu nehmen.
Die Natur – biologisch wie sozial – hat bereits unzählige Experimente durchgeführt. Manche waren erfolgreich, manche katastrophal. Die Informationen liegen vor uns wie ein offenes Buch. Aber wir bevorzugen es, unsere eigenen Fehler zu machen, in der Hoffnung, dass sie spektakulärer ausfallen als die der Vergangenheit.
Der Kellner räumt die Tasse des älteren Herrn ab, der nun gegangen ist. Auf dem Tisch liegt vergessen seine Zeitung mit dem Artikel über das neue Wundermittel. Ich nehme sie mir, überfliege den Text. Große Versprechen, vage Formulierungen, keine Erwähnung genetischer Variabilität.
Die Hoffnung in der Datenwüste
Es gibt Lichtblicke. Langsam beginnt die Forschung, genetische Diversität ernst zu nehmen. Programme wie das "All of Us Research Program" in den USA oder die "Human Heredity and Health in Africa"-Initiative versuchen, die weißen Flecken auf unserer genetischen Weltkarte zu füllen. Knockout-Datenbanken zeigen, welche Gene wir ohne Schaden verlieren können – wertvolle Hinweise für Medikamentenentwicklung.
Aber der Prozess ist langsam, viel zu langsam für diejenigen, die auf neue Therapien warten. Und oft fehlt der politische Wille, die Ressourcen dort einzusetzen, wo sie am wertvollsten wären – in der systematischen Erfassung genetischer Variationen in unterrepräsentierten Populationen.
Meine Kinder, einer in den Dreißigern, eine in ihren Zwanzigern, verstehen diese Dringlichkeit intuitiv. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, in der Diversität nicht nur ein Schlagwort ist, sondern eine erkannte Notwendigkeit. Sie verstehen, dass die interessantesten Antworten oft an den Rändern liegen, nicht in der Mitte.
Die Weisheit des Beobachtens
Draußen ist es dunkel geworden – die kurzen Dezembertage machen selbst den Nachmittag zur Dämmerung. Das Café Sperl erstrahlt in warmem Licht, eine analoge Insel in einer zunehmend digitalisierten Stadt. Die Atmosphäre hat etwas Zeitloses – hier könnte man genauso gut im Jahr 1925 sitzen wie 2025.
Vielleicht liegt genau darin eine Lektion. Die besten Systeme sind oft die, die sich über lange Zeiträume bewährt haben. Die Evolution ist das erfolgreichste Experiment der Geschichte – nicht weil sie schnell ist, sondern weil sie gründlich ist. Jede Mutation wird über Generationen getestet, jede Variante auf Herz und Nieren geprüft.
Wir hingegen sind ungeduldig. Wir wollen Ergebnisse in Quartalen, nicht in Generationen. Wir wollen disruptive Innovation, nicht geduldige Beobachtung. Und manchmal bezahlen wir dafür einen hohen Preis – wie jene acht jungen Männer im Jahr 2006.
Die Frage, die bleibt
Ich packe meine Notizen zusammen, bereite mich auf den Gang durch die kalte Dezembernacht vor. Die Frage, die mich beschäftigt, ist keine technische, sondern eine philosophische: Wann werden wir lernen, dass die klügsten Datenbanken oft die sind, die wir nicht selbst erschaffen haben?
Die Evolution hat jeden Rezeptor, jedes Protein, jeden biologischen Mechanismus bereits durchgetestet. Irgendwo gibt es Antworten auf fast jede medizinische Frage – wir müssen nur bereit sein, hinzusehen. Nicht dort, wo es bequem ist, sondern dort, wo die Antworten tatsächlich liegen.
Das gilt für die Pharmakologie genauso wie für die digitale Transformation. Die interessantesten Lösungen liegen selten in der neuesten App oder dem jüngsten Algorithmus. Sie liegen in den sozialen Systemen, die über Jahrtausende funktioniert haben. In den kulturellen Praktiken, die sich bewährt haben. In der Weisheit, die in Diversität liegt, nicht in Homogenität.
Draußen vor dem Café eile ich durch die Kälte, vorbei an Menschen, die jeweils einzigartige genetische Geschichten in sich tragen. Geschichten von Migration, Anpassung, Überleben. Eine lebende Bibliothek, die wir kaum lesen.
Vielleicht ist das die größte Ironie unserer Zeit: Wir haben Zugang zu mehr Daten als je zuvor in der Menschheitsgeschichte – aber die wertvollste Datenbank von allen, jene, die in uns selbst geschrieben steht, die blättern wir nur zögerlich auf.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Prückel, wo der Kellner mehr über ihn weiß als jede KI – durch jahrelange Beobachtung, nicht durch Algorithmen. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.
P.S.: Während ich diese Zeilen schreibe, trägt jeder Mensch um mich herum eine einzigartige Variation des Menschseins in sich. Manche dieser Variationen könnten Leben retten. Wenn wir nur bereit wären, hinzusehen.