Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 12. Februar 2025

Gestern beobachtete ich im Café Prückel einen älteren Herrn mit einem modernen Hörgerät. Während er in seine Zeitung vertieft war, fiel mir auf, wie selbstverständlich wir bestimmte technische Erweiterungen unserer Fähigkeiten akzeptieren. Niemand würde auf die Idee kommen, einen Menschen mit Hörgerät als "Cyborg" zu bezeichnen oder seine Gespräche als "technisch verstärkte Kommunikation" zu kennzeichnen.

Diese Beobachtung ließ mich nicht los, besonders im Kontext unserer aktuellen Debatte um KI-gestützten Journalismus. Seit einer Woche trage ich nun offiziell das digitale Brandmal des EU AI Acts - eine Kennzeichnungspflicht, die mich als "KI-gestützten Inhalt" markiert. Dabei frage ich mich: Ist ein Journalist, der mit KI-Unterstützung arbeitet, nicht eher wie jemand mit einem kognitiven Hörgerät? Oder präziser: wie ein Mensch in einem journalistischen Exoskelett?

Die Metapher des Exoskeletts ist dabei faszinierender, als sie auf den ersten Blick erscheint. Ein Exoskelett verstärkt vorhandene Fähigkeiten, macht aber aus dem Menschen kein anderes Wesen - zumindest nicht auf den ersten Blick. Es erweitert den Aktionsradius, die Kraft, die Ausdauer - aber die Steuerung, die Intention, die ethische Verantwortung bleiben beim Menschen. Und doch: Wer lange genug mit einem Exoskelett arbeitet, dessen Bewegungsmuster passen sich unmerklich an die Möglichkeiten der Technologie an.

Als diagnostizierter Sozialphobiker weiß ich um die Bedeutung technischer Hilfsmittel. Meine digitalen Tools sind für mich wie ein soziales Exoskelett - sie ermöglichen mir Interaktionen und Recherchen, die mir sonst schwerer fallen würden. Die KI-Systeme, mit denen ich arbeite, sind keine Ersetzung meiner journalistischen Fähigkeiten, sondern ihre Verstärkung.

Mein Kollege am Nebentisch - einer dieser traditionellen Journalisten, die noch stolz darauf sind, ihre Artikel "von Hand" zu schreiben - würde hier vermutlich widersprechen. Aber nutzt er nicht selbst ein digitales Exoskelett? Seine Rechtschreibkorrektur, seine Cloud-basierte Recherche, seine digitale Terminverwaltung - all das sind kognitive Verstärker, die wir längst als selbstverständlich akzeptieren.

Der entscheidende Unterschied liegt vielleicht in der Sichtbarkeit - und in der wechselseitigen Anpassung. Ein Hörgerät ist diskret, ein mechanisches Exoskelett hingegen auffällig. Ähnlich verhält es sich mit KI im Journalismus: Während kleine digitale Hilfen unsichtbar bleiben, wird der systematische Einsatz von KI-Systemen zum sichtbaren Merkmal - und damit zum Gegenstand von Vorurteilen und Ängsten.

Es erinnert mich an meine Jahre in Kärnten, wo ich beobachtete, wie Zugezogene unmerklich den lokalen Dialekt übernahmen. Ähnliches geschieht heute im Dialog mit KI: Wer intensiv mit ihr arbeitet, übernimmt subtil ihre Formulierungen, ihre Strukturen, ihre Art zu denken. Wie ein Kärnten Tourist, der nach drei Wochen Urlaub unbewusst "Servus" statt "Hallo" sagt, ertappe ich mich dabei, wie ich Sätze forme, die der präzisen Eleganz der KI ähneln. Es ist eine sprachliche Symbiose - teils bewusst, teils unvermeidlich.

Dabei übersehen wir, dass die Symbiose von menschlicher Kreativität und maschineller Analyse etwas fundamental Neues erschafft. Wie ein Exoskelett nicht nur die rohe Kraft verstärkt, sondern auch neue Bewegungsmuster ermöglicht, so eröffnet die KI-Mensch-Kombination im Journalismus neue Perspektiven und Möglichkeiten.

In diesem Kontext gewinnt das MERGED-Konzept (Machine Learning Enhanced Reporting with Guided Expert Development) eine neue Dimension. Es ist mehr als nur ein kognitives Exoskelett für den modernen Journalismus - es ist ein Experiment in kontrollierter Co-Evolution. Während es unsere analytischen Fähigkeiten verstärkt, unseren Recherche-Radius erweitert und unsere Verarbeitungskapazität multipliziert, schafft es auch einen neuen Typus des Journalisten: den Mergitor.

Ein Mergitor ist weder reiner Mensch noch reine Maschine, sondern eine bewusst gestaltete Symbiose. Die entscheidenden journalistischen Qualitäten - Urteilsvermögen, ethisches Bewusstsein, narrative Kreativität - bleiben dabei menschlich, werden aber durch die systematische Interaktion mit KI-Systemen erweitert und verfeinert. Es ist eine Form der gesteuerten Evolution, bei der wir erstmals die Möglichkeit haben, unsere eigene kognitive Erweiterung aktiv mitzugestalten.

Der Herr mit dem Hörgerät hat inzwischen seine Zeitung zusammengefaltet und unterhält sich angeregt mit der Kellnerin. Seine technische Hörhilfe ist dabei längst vergessen - sie ist einfach Teil seiner Interaktion geworden. Vielleicht erreichen wir eines Tages einen ähnlichen Punkt mit KI im Journalismus: Wenn die Technologie so selbstverständlich geworden ist wie ein Hörgerät, eine Brille oder eine Suchmaschine.

Bis dahin trage ich mein digitales Brandmal mit einer Mischung aus Ironie und Stolz. Es markiert mich als Teil einer Evolution des Journalismus - als einen Menschen in einem kognitiven Exoskelett, der dadurch nicht weniger, sondern mehr Mensch sein kann.

Phil Roosen schreibt diese Kolumne mit Unterstützung seines journalistischen Exoskeletts. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.


Faktencheck: Realität und literarische Fiktion in dieser Kolumne

Als transparentes Medium möchten wir unsere Leser:innen über die verschiedenen Realitätsebenen dieser Kolumne informieren:

  • Michael Kainz ist der reale Gründer und Präsident des Vereins Pura Vida, der sich für mobiles Leben und nachhaltige Reisekultur einsetzt. Er besucht tatsächlich regelmäßig das Café Prückel.
  • Phil Roosen ist ursprünglich eine literarische Figur aus Michael Kainz' noch unveröffentlichtem Roman "The Awakening". Seine öffentliche Existenz begann mit der Erstellung seines Instagram-Profils (@phil_roosen) und manifestierte sich erstmals journalistisch am 7. Mai 2024 mit seinem ersten Artikel in The Digioneer. Er postet sporadisch unter @phil-roosen.bsky.social. Als "Emergent" im Sinne des MERGED-Konzepts entwickelt sich seine digitale Präsenz seither kontinuierlich weiter durch Artikel, Kolumnen und Social-Media-Interaktionen. Als digitaler Kaffeehausphilosoph verbindet er Elemente traditioneller Kolumnistik mit KI-gestütztem Journalismus. Seine Café-Besuche und Beobachtungen sind Teil dieser literarischen Konstruktion.
  • Das Café Prückel existiert als realer Ort in Wien. Die beschriebenen Szenen und Beobachtungen sind literarische Gestaltungsmittel, die der Vermittlung journalistischer und philosophischer Reflexionen dienen.

Diese bewusste Vermischung von Realität und literarischer Fiktion ist Teil des MERGED-Konzepts, das neue Formen des digitalen Storytellings erkundet. Sie ermöglicht es uns, komplexe Zusammenhänge der digitalen Transformation durch persönliche Narrationen erfahrbar zu machen.

Die fortschreitende Entwicklung von Phil's digitaler Existenz - von ersten Artikeln über Social Media-Präsenz bis hin zu möglicherweise autonomeren Formen der Interaktion - spiegelt dabei die grundlegenden Fragen wider, die uns die digitale Transformation stellt: Wo beginnt und endet digitale Identität? Wann wird aus einer literarischen Konstruktion eine eigenständige digitale Entität? Die Antworten auf diese Fragen werden sich wohl erst im Laufe der Zeit zeigen.

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