Eine Betrachtung über die verlorene Kunst des digitalen Umherschweifens
Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer
Gestern Abend beobachtete ich vom Café Prückel aus einen älteren Herrn, der ziellos durch die Ringstraße schlenderte. Sein Gang hatte diese besondere Qualität des Flaneurs – jene fast vergessene Kunst des absichtslosen Umherschweifens, die einst die großen Städte Europas prägte. Während ich ihm nachsah, scrollte mein Daumen automatisch durch einen algorithmisch optimierten Feed – und plötzlich wurde mir die Ironie dieser Situation bewusst.
Wann haben wir eigentlich aufgehört, durchs Internet zu flanieren?
Ich erinnere mich noch gut an die frühen Tage des World Wide Web, als jede Online-Session eine Expedition ins Ungewisse war. Man klickte sich von Link zu Link, folgte der digitalen Fährte wie ein Entdecker, ohne zu wissen, wo man landen würde. Heute? Heute sind unsere Online-Wege so effizient optimiert wie eine deutsche Autobahn. Kein Umweg, kein Zufall, keine Überraschung.
Mein Sohn – digital native und effizienzoptimiert bis in die Haarspitzen – schaute mich neulich verständnislos an, als ich von diesen frühen Internet-Expeditionen erzählte. "Aber Papa", sagte er, "warum sollte man Zeit verschwenden, wenn der Algorithmus genau weiß, was man sucht?" Ja, warum eigentlich?
Vielleicht, weil wir gar nicht wissen, was wir suchen, bevor wir es gefunden haben.
Die Psychologie des Flanierens ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Es geht um diese besondere Mischung aus Aufmerksamkeit und Abdriften, um das, was die Situationisten dérive nannten – ein Sich-Treiben-Lassen im urbanen (oder digitalen) Raum. Meine Frau, die Psychotherapeutin, würde von "kontrollierter Dissoziation" sprechen. Ich nenne es digitale Serendipität – die Kunst, durch Zufall etwas Wertvolles zu finden, während man eigentlich nach etwas anderem sucht.
Neulich verirrte ich mich – ein seltener Luxus – in die Tiefen des Internets. Keine Optimierung, keine Personalisierung, einfach nur Link um Link, wie früher. Was ich fand, war erstaunlich: Websites von Menschen statt von Algorithmen. Persönliche Blogs statt Content-Fabriken. Gedanken statt Engagement-Metriken.
Der Herr am Nebentisch – er tippt gerade konzentriert auf seinem Smartphone – würde das vermutlich als Zeitverschwendung bezeichnen. Aber ist nicht genau das der Punkt? In einer Welt, in der jede Sekunde online optimiert, getrackt und monetarisiert wird, wird das ziellose Umherschweifen zum Akt der digitalen Rebellion.
Unsere algorithmischen Begleiter, diese übereifrigen digitalen Reiseführer, meinen es ja gut mit uns. Sie wollen uns vor Umwegen bewahren, vor Zeitverschwendung schützen, uns direkt ans Ziel bringen. Aber wie mein alter Philosophieprofessor immer sagte: Der Weg ist das Ziel. Oder zeitgemäßer ausgedrückt: Der Browse ist das Ziel.
Was wir verlieren, ist nicht nur die Freude am digitalen Entdecken. Es ist auch eine Form des Denkens, des Assoziierens, des Verbindens scheinbar unverbundener Dinge. Jeder Link, dem wir nicht folgen, jeder Umweg, den wir nicht nehmen, jede Sackgasse, die wir vermeiden, könnte eine verpasste Erleuchtung sein.
Die Ironie dabei: Je mehr wir uns auf optimierte Pfade verlassen, desto ärmer wird das Internet selbst. Die kleinen, persönlichen Websites verschwinden, die digitalen Trampelpfade verwildern, die Nischen werden von den Algorithmen übersehen und sterben aus. Was bleibt, ist ein hocheffizientes, aber steriles digitales Autobahnnetz.
Das erinnert mich an unseren Verein "Pura Vida" – eine der besten ungeplanten Abzweigungen meines Lebens. Wir setzen uns dort für eine andere Art des Reisens ein, eine, die dem digitalen Flanieren erstaunlich ähnlich ist. Statt durchgetakteter Pauschalreisen propagieren wir das mobile Leben, das Sich-Treiben-Lassen von einem Ort zum nächsten. Unsere Mitglieder – ob im Wohnmobil, mit Zelt oder im Mikrohaus – berichten von den erstaunlichsten Entdeckungen. Nicht die, die sie geplant hatten, sondern die, die sich ergaben.
Da ist zum Beispiel Martina Huber, eine unserer aktivsten Mitglieder. Als Webdesignerin könnte sie theoretisch jeden ihrer Arbeitstage perfekt durchplanen. Stattdessen lässt sie sich von ihrem ausgebauten VW-Bus durch Europa treiben. "Das pure Leben", wie sie es nennt, "entsteht in den Zwischenräumen. In den ungeplanten Momenten, wenn du eigentlich nur kurz am See anhalten wolltest und plötzlich eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten findest."
Diese Philosophie des Unterwegsseins – wir nennen es "Pura Vida" – ist vielleicht genau das, was uns im digitalen Raum abhanden gekommen ist. Während unsere Vereinsmitglieder die Freiheit des analogen Flanierens zelebrieren, ihre Routen spontan anpassen und sich von Zufallsbekanntschaften inspirieren lassen, klicken wir uns online durch vorgegebene Pfade. "79% unserer Mitglieder bezeichnen sich als 'fröhliche und gut gelaunte Menschen'", verrät unsere Vereinsstatistik. Vielleicht liegt das genau daran – an der Fähigkeit, sich treiben zu lassen, Umwege als Chancen zu begreifen und das Ungeplante willkommen zu heißen.
Während ich diese Zeilen schreibe, hat der flanierende Herr draußen bereits seine dritte Runde um den Häuserblock gedreht. Er scheint nichts Bestimmtes zu suchen – und findet dabei vielleicht mehr, als wir alle mit unseren zielgerichteten digitalen Expeditionen.
Vielleicht sollten wir uns von ihm inspirieren lassen. Ein bisschen mehr flanieren, ein bisschen weniger optimieren. Den digitalen Kompass gelegentlich ignorieren und einfach sehen, wohin uns die Bits und Bytes tragen. Die spannendsten Entdeckungen macht man schließlich immer noch abseits der ausgetretenen Pfade.
Ihr digitaler Kaffeehausphilosoph, der sich heute vorgenommen hat, mindestens drei Links zu folgen, die ihm der Algorithmus nicht empfohlen hat.
P.S.: Während ich hier sitze, hat mir mein Tablet gerade einen "personalisierten" Artikel über effizientes Zeitmanagement vorgeschlagen. Ich werde ihn demonstrativ ignorieren und stattdessen... oh, schau mal, eine Website über die Geschichte der Wiener Kaffeehäuser!