Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 6. November 2025

Die Novembersonne wirft goldene Schatten durch die Fenster des Café Olé am Karmelitermarkt. An meinem Eckplatz, geschützt vor der Bobo-Parade, die hier ihre Authentizität zelebriert, lese ich Richard David Prechts "Angststillstand" – und nicke. Der Philosoph hat recht.

Seine Diagnose ist präzise: Über 50 Prozent der Deutschen glauben, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können. Wir sind infantiler geworden, empfindlicher, fixiert auf unser Ich. Die zivilisatorisch wertvolle Unterscheidung zwischen Mensch und Meinung fällt dahin – wir sind unsere Meinung geworden, und jeder Widerspruch wird zur persönlichen Kränkung. Precht prägt dafür den Begriff "Axolotlisierung": Wir verharren wie jener mexikanische Salamander im Larvenstadium, werden nicht erwachsen.

Das Problem ist real. Am Nebentisch diskutiert eine junge Frau: "Man kann ja heute gar nichts mehr sagen" – mit jener paradoxen Lautstärke, die ihre These widerlegt, während ihr Smartphone griffbereit liegt, um ihre Meinung ins Netz zu schleudern. Die Ironie ist offensichtlich. Aber die Angst ist trotzdem real.

Precht hat ein wichtiges Buch geschrieben. Und genau deshalb muss ich widersprechen.

Der blinde Fleck: Die Maschine, an die der Patient angeschlossen ist

Prechts Lösung ist so einfach wie anspruchsvoll: Erwachsenwerden. Resilienz entwickeln. Das Kind in uns zum Schweigen bringen. Zwischen Person und Position unterscheiden lernen. Eine schöne Vision – und hier endet seine Analyse.

Aber genau hier beginnt das eigentliche Problem.

Precht liefert eine brillante psychologische Diagnose und übersieht dabei die technologische Maschinerie, die dieses Verhalten systematisch züchtet. Er schaut sich den Patienten an und ignoriert komplett die Maschine, an die er angeschlossen ist.

Wenn Sensibilität zur Waffe wird – aber wer schmiedet sie?

Precht kritisiert in seinem Buch offenbar – so die Rezensionen – "woke"-Bewegungen und ihre vermeintliche Überempfindlichkeit. Hier muss ich widersprechen, nicht in der Beobachtung, aber in der Ursachenanalyse.

Die neue Sensibilität für Diskriminierung, für Sprache, für Ausgrenzung ist zunächst ein Fortschritt. Das Problem entsteht nicht durch diese Sensibilität selbst, sondern durch ihre Instrumentalisierung. Wenn Verletzlichkeit nicht mehr dem besseren Zusammenleben dient, sondern zur Waffe im digitalen Statuswettbewerb wird – dann haben wir ein Problem.

Aber wer schmiedet diese Waffe? Nicht die "woken" Studierenden, die auf Triggerwarnungen bestehen. Sondern die Plattformen, die aus jeder Empörung Kapital schlagen. Die algorithmische Architektur belohnt nicht Sensibilität, sondern Skandalisierung. Sie verstärkt nicht Empathie, sondern Empörung.

Die "Axolotlisierung" ist kein rein psychologisches Phänomen. Sie ist ein algorithmisches Geschäftsmodell.

Der Algorithmus als Erzieher zur Unreife

TikTok, Instagram, Facebook – sie belohnen genau jene Verhaltensweisen, die Precht kritisiert: die schnelle emotionale Reaktion, die moralische Empörung, das Persönlichnehmen von Sachfragen. Nichts generiert so viel Engagement wie Kränkung, nichts so viele Klicks wie der Shitstorm, nichts so viel Verweildauer wie der Kommentarkrieg.

Die junge Frau am Nebentisch hat ihren empörten Kommentar abgeschickt. Jetzt checkt sie obsessiv ihr Smartphone – fünf Likes, drei wütende Antworten. Ich sehe, wie die Dopaminschleife greift, wie die Finger bereits die Gegenantwort tippen. Der Axolotl in ihr wird gerade gefüttert – nicht von ihrer mangelnden Reife, sondern von einem System, das präzise auf diese Unreife optimiert ist.

Als Sozialphobiker kenne ich die Versuchung. Die Möglichkeit, unangenehme Interaktionen zu vermeiden, Menschen stumm zu schalten, mich in meine kuratierte Timeline zurückzuziehen – das ist verlockend. Aber ich erkenne auch die Kosten: die verpassten Gelegenheiten zur intellektuellen Reibung, die Erkenntnisse, die nur im Widerspruch entstehen können.

Am Fenster sitzt ein älteres Ehepaar mit einer gedruckten Zeitung. Sie kommentieren leise, nicken, schütteln den Kopf – Menschen, die noch gelernt haben, zwischen Mensch und Meinung zu unterscheiden. Sie mussten es lernen, weil es keine Block-Funktion gab, weil das soziale Überleben davon abhing.

Prechts Appell zum Erwachsenwerden ist richtig. Aber wie soll das gelingen, wenn das gesamte System darauf ausgelegt ist, es zu verhindern?

Die strukturelle Komplizenschaft

Was Precht nicht ausreichend würdigt – vielleicht weil es außerhalb seines philosophischen Fokus liegt – ist die strukturelle Komplizenschaft zwischen unserer Empfindlichkeit und den Geschäftsmodellen der Tech-Industrie. Die Plattformen sind keine neutralen Räume. Sie sind Verstärker, Katalysatoren, aktive Gestalter unseres Diskurses.

Das Wiener Kaffeehaus war historisch ein Ort des zivilisierten Streits. Man argumentierte im selben Raum, unter denselben sozialen Regeln, mit der impliziten Übereinkunft, am Ende dennoch gemeinsam das Lokal zu verlassen. Die digitale Öffentlichkeit hat diese räumliche Begrenzung aufgehoben. Wir können jederzeit gehen, jeden blocken, uns in unsere Echokammer zurückziehen.

Wenn Mira Murati mit 2 Milliarden Dollar ein neues KI-Unternehmen gründet und von "menschlicherer" KI spricht – dann ist das Teil desselben Problems. Erst schaffen die Tech-Bros Plattformen, die uns infantilisieren, dann bieten sie uns KI-Systeme an, die uns durch diese infantilisierte Welt navigieren sollen. Erst zerstören sie unsere Fähigkeit zum zivilisierten Diskurs, dann versprechen sie uns "Content Moderation" als Ersatz.

Precht würde hier einwenden: Die Verantwortung liegt bei uns, nicht bei der Technologie. Wir müssen erwachsen werden.

Ja, aber. Wie soll das gelingen, wenn das gesamte System darauf ausgelegt ist, genau das zu verhindern?

Zwischen Lähmung und Hoffnung

Die Sonne steht tief, die Schatten werden länger. Der herbstliche Tag neigt sich seinem Ende zu – wie der zivilisierte Diskurs, den Precht beklagt.

"Angststillstand" ist ein wichtiges Buch, weil es eine offene Wunde benennt. Die gefühlte Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Selbstzensur, die Lähmung – all das ist real und muss ernstgenommen werden.

Aber die Lösung kann nicht nur in individueller Reifung liegen. Sie muss auch in der Umgestaltung jener technologischen Systeme liegen, die unsere Unreife systematisch verstärken und monetarisieren. In Regulierung, in Bildung, in der bewussten Gestaltung digitaler Öffentlichkeiten, die dem zivilisierten Diskurs dienen statt der Empörungsökonomie.

Die Axolotlisierung unserer Gesellschaft ist nicht nur ein psychologisches Phänomen. Sie ist auch ein technologisches Geschäftsmodell. Und bis wir das erkennen und entsprechend handeln, wird der Angststillstand anhalten – verstärkt durch Algorithmen, monetarisiert durch Tech-Konzerne, gerechtfertigt durch die Rhetorik der "Nutzerfreundlichkeit".

Ich zahle und trete hinaus in die Dämmerung. Irgendwo in dieser Stadt sitzt vielleicht jemand an einem Stammtisch und streitet sich mit Freunden über Politik, ohne dabei die Freundschaft aufs Spiel zu setzen.

Vielleicht liegt darin die Hoffnung: nicht in der Rückkehr zu einer vermeintlich besseren Vergangenheit, sondern in der bewussten Kultivierung jener Räume – digital wie analog – in denen zivilisierter Streit noch möglich ist. Wo man lernen kann, dass Widerspruch keine Kränkung ist, dass Erwachsensein nicht in Unempfindlichkeit besteht, sondern in der Fähigkeit, mit Empfindungen umzugehen.

Der Axolotl in uns muss nicht für immer Larve bleiben. Aber er braucht mehr als philosophische Appelle. Er braucht eine Umgebung, die Metamorphose ermöglicht statt verhindert.

Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne aus dem Café Olé am Karmelitermarkt, während die digitalen Echokammern ihre abendliche Empörungsrunde drehen. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

P.S.: Precht hat ein wichtiges Buch geschrieben. Aber zwischen seiner philosophischen Diagnose und meiner Beobachtung der algorithmischen Verstärkung liegt vielleicht der Kern des Problems: Wir infantilisieren uns nicht nur selbst – wir werden systematisch infantilisiert. Und wer die Maschine nicht sieht, an die der Patient angeschlossen ist, kann ihn nicht wirklich heilen.

Share this article
The link has been copied!