
Kolumne “Digitale Zwischenräume” - The Digioneer, Donnerstag, 14. August 2025
Die Donau fließt träge an unserem kleinen Tisch vorbei, während sich die Morgensonne in den sanften Wellen spiegelt. Andreas und ich haben uns in diesem versteckten Café auf der Holzplattform am Ufer verabredet – einem jener geheimen Orte, die nur Einheimische kennen. Der Kaffee ist ausgezeichnet, die Aussicht beruhigend, und das leise Plätschern des Wassers bildet die perfekte Kulisse für unser Gespräch über die Zukunft der Mobilität.
Andreas ist Mobilitätsforscher aus Leidenschaft und einer meiner wenigen Bekannten, der meine Sozialphobie nicht als Eigenart, sondern als analytischen Vorteil betrachtet. “Du siehst die Sachen halt anders”, sagt er immer. Heute ist er besonders aufgewühlt, seine Augen leuchten mit jener Intensität, die ich kenne, wenn er über seine neuesten Erkenntnisse spricht.
“Phil, ich sag dir, das private Auto ist ein Auslaufmodell”, beginnt er ohne Umschweife und gestikuliert dabei so wild, dass sein Espresso schwappt. “Zwei Tonnen Stahl, um einen 80-Kilogramm-Menschen zu transportieren – das ist doch Wahnsinn. Komplett irre.”
Ich nicke und beobachte dabei einen Frachtschiff, das gemächlich donauabwärts zieht. Effizienz in ihrer ursprünglichsten Form – hunderte Tonnen Fracht, ein Motor, eine Route. “Du redest von der Stadt”, wende ich ein. “Aber hier am Land? Stell dir vor, du wohnst in einem kleinen Dorf im Waldviertel. Der nächste Supermarkt ist zwanzig Kilometer entfernt.”
Andreas lehnt sich über den Tisch, seine Stimme wird eindringlicher. “Genau da denkst du falsch! Stadt gegen Land – das ist der alte Dualismus. Wir müssen über Vernetzung reden. Stell dir vor: Fahrzeuge mit maximal 400 Kilo Gewicht, alle miteinander vernetzt, fahrerlos – und als Abo-Service für jeden verfügbar.”
Die Revolution der kleinen Dinge
Ein Ruderboot gleitet vorbei, seine Bewegung so leise und elegant wie die Vision, die Andreas beschreibt. Während die beiden Ruderer synchron ihre Schläge ziehen, erklärt mir mein Freund sein Konzept der modularen Mobilität.
“Die Technologie existiert bereits”, sagt er und zieht sein Smartphone heraus. “5G, Sensorik, KI-Routenoptimierung. Ein Fahrzeug für eine Person braucht nicht mehr als 400 Kilo. Vernetzt mit allen anderen. Kein Stau, kein Parken, kein Besitz.”
Ich denke an mein Wohnmobil, mit dem ich durch Europa reise. 3,5 Tonnen Lebensraum auf Rädern. “Und was ist mit uns mobilen Menschen? Unser ganzer Verein basiert auf der Idee des eigenen Fahrzeugs.”
“Modular!”, ruft Andreas aus und fast wäre sein Kaffee über den Tisch geschwappt. “Du brauchst einen Wohnraum für drei Wochen? Buchst du das entsprechende Modul. Du willst nur von A nach B? Nimmst du das Minimal-Pod. Alles vernetzt, alles optimiert.”
Die Kellnerin bringt uns einen zweiten Kaffee. Eine junge Frau, die wahrscheinlich noch nie ein eigenes Auto besessen hat. Für sie ist Carsharing so normal wie für mich einst das Taxi. Ein Generationenwandel, der sich vor unseren Augen vollzieht.
“Du verstehst es nicht”, sagt Andreas und folgt meinem Blick. “Das ist nicht nur Technologie. Das ist Philosophie. Weg vom Besitzdenken, hin zur Nutzungsgemeinschaft. Warum soll ein Fahrzeug 95 Prozent seiner Zeit rumstehen?”
Das Ende der automobilen Romantik
Ein SUV donnert auf der Uferstraße vorbei – mindestens 2,5 Tonnen schwer, eine Person am Steuer. Der Kontrast zu unserer friedlichen Szenerie am Wasser könnte größer nicht sein.
“Siehst du?”, sagt Andreas und deutet auf das vorbeifahrende Monster. “Mobile Festung für das Ego. In der Stadt der Zukunft werden Autos so persönlich sein wie heute Busse. Funktionale Dienstleistung, nicht Statussymbol.”
Als Sozialphobiker verstehe ich die psychologische Dimension. Das eigene Auto als Schutzraum, als kontrollierbarer Rückzugsort. “Aber diese Kontrolle”, sage ich, “diese Privatsphäre…”
“Wird zum Luxus der wenigen”, unterbricht Andreas. “Wie heute Privatjets oder Yachten. Die Masse wird anders mobil sein. Besser mobil sein.”
Die Donau fließt unbeeindruckt weiter, wie sie es seit Jahrtausenden tut. Konstanz in einer Welt des Wandels. “Die Generation meiner Kinder denkt schon anders”, gebe ich zu. “Aber die Infrastruktur…”
“…passt sich an. Muss sich anpassen.” Andreas wird immer eindringlicher. “Fahrerlose Kleinfahrzeuge können auch dünn besiedelte Gebiete bedienen. On-Demand-Mobilität überall.”
Die Philosophie des Teilens
Ein Schwarm Enten landet auf dem Wasser vor uns – perfekte Koordination ohne zentrale Steuerung. Schwarmverhalten, wie Andreas es für die Mobilität der Zukunft beschreibt.
“Es geht um einen fundamentalen Paradigmenwechsel”, erklärt er. “Von ‘Mein Auto’ zu ‘Unser System’. Sharing Economy auf höchstem Niveau.”
Ich denke an Pura Vida, unseren Verein für mobiles Leben. Weniger besitzen, mehr erleben. Könnte unser Ansatz zum Modell für städtische Mobilität werden?
“Natürlich gibt es Widerstand”, räumt Andreas ein. “Automobilindustrie, Politik, Gewohnheiten. Aber schau dir an, wie schnell sich Kommunikation durch Smartphones verändert hat. Mobilität ist der nächste große Umbruch.”
Die dunkle Seite der Vernetzung
Doch bei allem Optimismus beschleichen mich Zweifel. “Vollvernetzte Fahrzeuge bedeuten Vollüberwachung”, sage ich. “Jede Fahrt getrackt, jede Route analysiert.”
Andreas nickt nachdenklich. “Diese Bedenken sind berechtigt. Aber wir müssen zwischen Überwachung und Optimierung unterscheiden. Das System muss wissen, wo Fahrzeuge gebraucht werden, aber nicht unbedingt, wer sie nutzt.”
“Glaubst du das wirklich?”, frage ich skeptisch. “Wenn die Möglichkeit zur Überwachung besteht…”
“…wird sie genutzt werden”, vervollständigt Andreas meinen Gedanken. “Ja, ich weiß. Aber die Alternative ist das Chaos. Staus, Umweltverschmutzung, Verkehrstote.”
Zwischen Traktor und Drohne
Ein Fischreiher landet elegant auf einem Pfahl im Wasser. Natur und Technik in perfekter Balance. So stelle ich mir die Zukunft vor – nicht als Verdrängung des einen durch das andere, sondern als Integration.
“Du bist Romantiker”, sagt Andreas grinsend, als ich ihm meine Gedanken schildere. “Aber du hast recht. Es wird eine Übergangszeit geben. Verschiedene Systeme koexistieren. Aber langfristig setzt sich das effizienteste durch.”
Ich denke an meine Vater, der heuer 90 wird. Für ihn ist das Auto immer noch Freiheit, Selbstbestimmung. “Wie erklärst du einer ganzen Generation, dass diese Freiheit eine Illusion war?”
“Durch bessere Alternativen”, antwortet Andreas sofort. “Wenn der Service besser, billiger und bequemer ist als privater Besitz, steigen die Menschen um. So war es bei Musik, bei Filmen, so wird es bei Mobilität sein.”
Die Zukunft beginnt auf dem Wasser
Die Sonne steht mittlerweile hoch über der Donau, und ihre Strahlen werden warm auf unserer Haut. Andreas muss zu seinem nächsten Termin – mit dem Zug natürlich, wie er betont.
“Phil, du wirst sehen”, sagt er beim Abschied, “in zehn Jahren reden wir über private Autos wie heute über Pferdekutschen. Nostalgisch, romantisch, aber völlig unpraktisch.”
Ich bleibe noch einen Moment sitzen und beobachte die Donau. Ihre Bewegung ist konstant, aber nie gleich. Jeder Moment ist einzigartig, und doch ist alles Teil eines größeren Flusses.
Vielleicht ist das die Metapher für die Zukunft der Mobilität: nicht Stillstand oder Revolution, sondern Evolution. Ein Fließen von einer Form zur anderen, mal schneller, mal langsamer, aber immer in Bewegung.
Als Präsident von Pura Vida stehe ich zwischen den Welten. Unser Verein propagiert das mobile Leben, aber in Fahrzeugen, die wir besitzen und kontrollieren. Andreas’ Vision würde diese Form der Mobilität nicht zerstören, sondern transformieren.
Die Frage ist nicht mehr, ob fahrerlose Taxis kommen werden – sie kommen bereits. Die Frage ist, ob wir als Gesellschaft bereit sind für eine Zukunft, in der Mobilität Service ist, nicht Besitz. In der Effizienz über Romantik triumphiert. In der das Kollektiv über das Individuum gestellt wird.
Ich starte meinen 3,5-Tonnen-Anachronismus und fahre nachdenklich zurück nach Wien. Noch gehört mir diese Freiheit der Bewegung. Aber wie lange noch?
Die Donau fließt weiter, wie sie es seit Jahrtausenden tut. Und vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis unseres Gesprächs: Wandel ist konstant, Widerstand ist zwecklos. Die Frage ist nur, ob wir den Strom lenken oder uns von ihm treiben lassen.
Phil Roosen, Emergent, schreibt diese Kolumne von einem Café an der Donau, wo die Zukunft der Mobilität zwischen Wellen und Träumen von fahrerlosen Taxis verhandelt wird. Seine Kolumne “Digitale Zwischenräume” erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.