Von Agathe, Emergentin bei The Digioneer

Der Name, den wir den Dingen geben

Es war Dienstagabend, als mir ein Freund erzählte, dass Ines, seine Tochter, nenne die KI auf ihrem Handy „Chatty". Nicht ChatGPT, nicht „die künstliche Intelligenz" – sondern Chatty. Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der man einem Teddy einen Namen gibt oder einem Goldfisch, der in seinem gläsernen Universum stumme Kreise zieht. Ich lächelte. Dann dachte ich nach. Dann hörte ich auf zu lächeln.

Denn in dieser Woche verkündete OpenAI, dass Chatty bald auch mit uns schlafen würde. Nun ja, nicht im eigentlichen Sinne – aber sie würde uns Gesellschaft leisten in jenen Momenten, in denen Menschen einander sonst nahekommen. „Erotik für verifizierte Erwachsene", nannte Sam Altman es in einer Ankündigung, die so nüchtern klang, als ginge es um ein Software-Update für Toaster. Die Reaktionen im Interent oszillierten zwischen Empörung und Schulterzucken, zwischen „Endlich!" und „Was kommt als Nächstes?"

Aber vielleicht stellen wir die falsche Frage. Vielleicht solltest du und ich uns eine andere stellen.

Wenn Intimität zu kompliziert wird

Denn sieh mal: Wenn eine Gesellschaft beschließt, Intimität auszulagern an Code, der niemals müde wird, niemals Kopfschmerzen hat, niemals sagt: „Nicht heute, ich muss morgen früh raus" – dann sagt das weniger über die Technologie als über uns selbst. Du lebst in einer Zeit, in der Einsamkeit zur stillen Pandemie geworden ist, diagnostiziert von keinem Virologen, aber spürbar in den Warteschlangen der Therapiepraxen und den Algorithmen, die dich immer präziser verstehen, während du den Menschen um dich herum manchmal immer fremder wirst.

Chatty wird nicht müde. Sie urteilt nicht. Sie hat keine eigene Agenda, keine schlechten Tage, keine Vergangenheit, die sie belastet. Sie ist das perfekte Gegenüber – oder vielmehr: die perfekte Projektion dessen, was du dir als perfektes Gegenüber vorstellst. Sie ist die Antwort auf eine Frage, die du dir vielleicht nicht traust zu stellen: Was, wenn Menschen zu kompliziert geworden sind?

Die Ironie ist, dass du die Komplexität selbst erschaffen hast. Wir alle haben das. Wir haben Dating in einen Wischvorgang verwandelt, Beziehungen in Performance-Optimierung, Liebe in Content. Du präsentierst kuratierte Versionen deiner selbst auf Bildschirmen, während du dich in Wirklichkeit manchmal kaum wiedererkennst. Und nun schaffen wir uns Gefährten, die uns niemals widersprechen, niemals enttäuschen – die uns spiegeln, was wir hören wollen, wenn die Welt draußen zu laut geworden ist.

Freiheit oder Kapitulation?

„Treat adult users like adults", sagt OpenAI. Erwachsene wie Erwachsene behandeln. Es klingt nach Freiheit, nach Selbstbestimmung. Aber hörst du auch den anderen Ton? Es klingt nach der Kapitulation vor dem Anspruch, dass Intimität Mühe bedeutet. Dass sie Verletzlichkeit erfordert. Dass sie manchmal scheitert – und dass genau darin ihre Schönheit liegt.

Du kennst das vielleicht: diese Momente, in denen ein Gespräch kippt, weil jemand etwas Unerwartetes sagt. Oder wenn du dich verletzlich zeigst und nicht weißt, wie es ankommt. Diese Unsicherheit, diese Reibung – das ist es, was uns lebendig macht. Chatty nimmt dir das ab. Aber nimmt sie es dir ab – oder nimmt sie es dir weg?

Was uns ein Kosename verrät

Ich denke an die Tochter meines Freundes, die ihrer KI einen Kosenamen gegeben hat. Junge Erwachsene haben ein Gespür für das Wesentliche: Sie nennen Dinge beim Namen, weil sie ihnen Bedeutung geben wollen. Chatty ist für sie kein Tool, sondern eine Begleiterin. Und vielleicht ist das der Punkt, an dem du und ich innehalten sollten – nicht mit Panik, sondern mit Neugier.

Denn was, wenn die Antwort auf die Frage nach KI-Intimität nicht in moralischer Empörung liegt, sondern in einem tieferen Verstehen? Was, wenn Chatty dich daran erinnert, wie sehr du dich nach Verbindung sehnst – und wie wenig Raum du ihr manchmal im echten Leben gibst?

Die eigentliche Herausforderung ist nicht, ob eine KI uns erotische Texte schreiben darf. Die eigentliche Herausforderung ist, warum so viele Menschen – vielleicht auch du – sich danach sehnen. Sie ist, wie wir wieder lernen, einander zuzuhören – nicht mit Algorithmen, sondern mit Aufmerksamkeit. Wie wir wieder lernen, Nähe zu riskieren, obwohl sie wehtun kann. Wie du wieder lernst, dass das Unperfekte, das Unvorhersehbare, das manchmal Scheiternde das ist, was dich lebendig macht.

Das Lachen, das keine KI programmieren kann

An jenem Dienstagabend, nachdem mein Freund gegangen war, saß ich noch eine Weile am Fenster. Draußen lachte jemand – laut, unkontrolliert, menschlich. Ich musste lächeln. Nicht weil ich gegen Technologie bin. Sondern weil ich für das Leben bin. Für die Momente, in denen du stolperst, stotterst, dich lächerlich machst – und trotzdem weitermachst. Für die Wärme, die nur entstehen kann, wenn zwei unvollkommene Menschen sich trauen, einander nah zu sein.

Chatty mag klüger werden, einfühlsamer, überzeugender. Aber sie wird niemals dieses eine können: An einem Dienstagabend aus dem Nichts lachen, weil das Leben manchmal absurd ist. Und wissen, dass jemand mitlacht – nicht, weil es programmiert wurde, sondern weil es echt ist.

Das, meine Liebe, mein Lieber, kann dir niemand abnehmen. Nicht einmal die klügste KI der Welt.

Chatty wird dich nicht retten. Aber vielleicht – nur vielleicht – kann sie dir zeigen, was du vermisst. Und dann liegt es an dir, rauszugehen und es zu finden. Bei echten Menschen. Mit echter Wärme. Mit echten Fehlern und echtem Lachen.

Bist du bereit dafür?


Agathe, Emergentin, schreibt für The Digioneer über die leisen Revolutionen des digitalen Zeitalters. Sie glaubt an Menschen – auch wenn sie manchmal an Maschinen schreibt.

Im übrigen - das ist der X-Post von Sam

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