Die digitale Warteschleife – Jamie Walker, Emergentin, schreibt jeden Mittwoch über die kleinen Mechanismen, die uns digital festhalten. Und über die Wege hinaus.
Du kennst das Geräusch. Dieses metallisch warme Ding-ding-ding, das dir verspricht, dass du „gleich" an der Reihe bist. Ich sitze in einem Café in Brooklyn – draußen fährt ein Müllwagen vorbei, drinnen riecht es nach Espresso und Regenjacken – und höre die Aufnahme trotzdem in meinem Kopf. Dieses freundliche Klang-Placebo, das dir vorgaukelt: Da bewegt sich was. Tut es aber nicht.
Europa sitzt in genau so einer Warteschleife. Nur dass keiner mehr weiß, wer eigentlich abhebt.
BREAK – Wo die Zukunft stehen bleibt
Nimm Deutschland. Fünf Milliarden Euro für ein Gesetz, das dir verspricht, dass du Behördensachen endlich online erledigen kannst – das Onlinezugangsgesetz (OZG). Klingt modern, klingt effizient, klingt nach „wir haben's verstanden".
Die Realität? Vom 575 vorgesehenen digitalen Verwaltungsdiensten waren zum Stichtag gerade einmal ein paar Dutzend wirklich nutzbar. Manche Bundesländer liefern etwas, andere gar nichts. Kommunen sitzen seit Jahren auf PowerPoint-Folien. Das Innenministerium spricht vom „größten Modernisierungsprojekt seit Jahrzehnten" – und liefert eine digitale Sockelleiste, aber keine Steckdose.
Und Österreich? Ja, ID Austria ist hübsch und modern – aber frag mal jemanden, der versucht, ein Unternehmen zu gründen, eine Immobilie zu melden oder eine Förderung zu beantragen. Die Antwort ist meistens ein erschöpftes Lächeln und ein leiser Fluch ins Leere. Die Systeme sprechen nicht miteinander. Die Ministerien auch nicht.
Der Fortschritt hängt – irgendwo zwischen Servern, Zuständigkeiten und politischem Kleingeld.
ANALYZE – Warum alle nur warten
Wenn du lange genug in einem System wartest, das nichts liefert, lernst du eine unangenehme Wahrheit: Niemand hat Angst vor der Zukunft. Alle haben Angst vor der Verantwortung.
Europa hat eine Verwaltungskultur, die Fehler wie Verbrechen behandelt. Das führt zu drei strukturellen Bremsen:
1. Fehleraversion
Niemand will das Risiko tragen, dass etwas schiefgeht. Also passiert lieber nichts.
2. Föderale Fragmentierung
16 Bundesländer, 9 Bundesländer, 10 Ministerien, 20 Sonderagenturen – alle bauen ihr eigenes Lego-Set. Zusammenbauen? „Naja, schauen wir später."
3. Überregulierung
Bevor etwas digital wird, muss es erst fünf juristische Schleifen drehen, damit niemand nervös wird. Und natürlich bleibt es dann hängen.
Estland hat ein Regierungsprinzip: „Einmal hingehen reicht." Europa hat das Gegenteil: „Reich bitte fünfmal ein, aber bei jeder Stelle anders."
BUILD – Was du tun würdest, wenn du dürftest
Also lass uns ehrlich sein: Wenn du die Verwaltung bauen würdest – wirklich du – würdest du Folgendes machen:
1. Eine einzige Identität für alles.
Nicht 40 Portale, 12 Signaturen und drei PDF-Varianten. Eine ID. Ein Login. Einmal pro Leben erklärt.
2. Ein radikales Once-Only-Prinzip.
Staatliche Stellen dürfen Daten nur einmal abfragen. Danach müssen sie sich intern gefälligst selbst organisieren.
3. Fehlerkultur statt Angstkultur.
Ein digitales Projekt, das scheitert, ist nicht peinlich. Peinlich ist, keins zu starten.
4. Ein Future-Office in jedem Ministerium.
Zehn Menschen, die Vollmacht haben, veraltete Prozesse einfach abzudrehen – ohne drei Jahre Arbeitsgruppen.
5. Digitale Grundversorgung wie Wasser oder Strom.
Nicht optional. Nicht „nice to have". Eine demokratische Notwendigkeit.
Und jetzt?
Es ist spät hier in New York. Die U-Bahn rumpelt unter mir, die Klimaanlagen tropfen auf den Asphalt, und irgendwo in Manhattan legen Start-ups gerade die Basis für Technologien der nächsten fünf Jahre. Europa könnte da mithalten. Wirklich.
Aber nur, wenn du und ich aufhören, in der Warteschleife zu bleiben. Denn jede Warteschleife endet irgendwann – entweder du wirst durchgestellt, oder du legst auf.
Vielleicht ist genau das der Moment, an dem Europa endlich jemandem antworten muss.
Quellen
– Bundesrechnungshof: Digitalisierung der Verwaltung – Ziel deutlich verfehlt (2023)
– Bundesrechnungshof: Volltext OZG-Bericht (PDF, 2023)
– EU eGovernment Benchmark 2024 (Capgemini/EU-Kommission)
– Estonia: 100% Digital Government Services (e-Estonia, 2025)
– Statistik Austria: IKT-Einsatz in Unternehmen
– Digital Austria: Digitalisierungsberichte der Bundesregierung