Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 8. Mai 2025

Nach einer Woche, in der der Himmel über Wien seine ganze melancholische Palette von Grautönen durchdekliniert hat, sitze ich heute im tewa am Karmelitermarkt und genieße einen perfekt zubereiteten Café Olé. Vor mir auf dem Tablet flimmern die neuesten Prognosen der Wall Street: Goldman Sachs erwartet 220.000 Dollar pro Bitcoin bis Ende des Jahres. JPMorgan kalkuliert mit 165.000 Dollar. Standard Chartered mit 200.000.

Die gleichen Banken, gegen deren Macht Bitcoin einst antreten sollte, prophezeien nun dessen kometenhaften Aufstieg. Und ich sitze hier und beobachte, wie eine der brillantesten technologischen Ideen des 21. Jahrhunderts an der ältesten menschlichen Schwäche zugrunde geht: der blanken, unverhohlenen Gier.

Die Bankiers übernehmen die Revolution

Am Nebentisch prahlt ein junger Mann in Designerjeans über seine Bitcoin-Gewinne. "Goldman Sachs sagt 220.000 bis Jahresende", verkündet er. "Da kann ich locker noch mal verdoppeln." Er zahlt seinen Kaffee – mit Karte, nicht mit Bitcoin – und scrollt durch die Analysen etablierter Finanzinstitute wie durch ein heiliges Textbuch.

Die Ironie scheint ihm nicht aufzufallen: Er feiert seine "Revolution", während er sich von genau jenen Institutionen beraten lässt, gegen die Bitcoin einst antreten sollte. Bitcoin stand Anfang des Jahres bei 110.000 Dollar, im August bei 124.000, Anfang Oktober bei 125.000. Und während der amerikanische Shutdown das Land lähmt, während öffentliche Bedienstete nicht bezahlt werden, prognostizieren die größten Banken der Welt weitere astronomische Gewinne. Standard Chartered nennt den Shutdown sogar explizit als "Katalysator" für steigende Kurse.

Lese diesen Satz noch einmal: Die politische Krise, die Millionen Menschen in Unsicherheit stürzt, wird als Investmentchance gefeiert. Das ist nicht mehr nur Spekulation – das ist moralischer Bankrott.

Die gestohlene Vision

Satoshi Nakomotos White Paper entstand 2008, mitten in der Finanzkrise, als Banken mit Steuergeldern gerettet wurden, während Millionen ihre Häuser verloren. Bitcoin sollte eine demokratische Alternative sein, eine Währung für das Volk, frei von staatlicher Willkür und Bankenmacht.

Heute definiert Goldman Sachs – mit 10 Milliarden Dollar Steuergeldern gerettet – den Bitcoin-Wert anhand der Gold-Korrelation. JPMorgan, dessen CEO Bitcoin jahrelang als "Betrug" bezeichnete, gibt nun Kursziele aus. Die Revolution wurde nicht bekämpft, sondern umarmt, domestiziert und ins eigene Geschäftsmodell integriert.

Das "Safe Haven"-Märchen und die Nachkommastellen-Absurdität

Besonders perfide ist das neue Narrativ: Bitcoin als "sicherer Hafen", vergleichbar mit Gold. Sicher für wen? Nicht für die Shutdown-Opfer. Nicht für Menschen ohne Vermögen. Der "sichere Hafen" ist ausschließlich für jene, die es sich leisten können, in Assets zu investieren, die zwischen 64.000 und 220.000 Dollar schwanken – eine Volatilität von 240 Prozent bei den aktuellen Prognosen.

Und während die Finanzwelt von Bitcoin als Währungsalternative spricht, offenbart der Alltag die Absurdität: Ein Kaffee für 4,50 Euro würde 0,0000523 Bitcoin kosten. Fünf Nullen nach dem Komma. Unser Gehirn ist nicht für solche Zahlen gemacht. Satoshi Nakamoto hat offenbar nicht vorausgesehen, was passiert, wenn eine Währung nicht mehr als Tauschmittel, sondern als Spekulationsobjekt dient.

Die selbsterfüllende Prophezeiung

Die Bitcoin-Prognosen sind teilweise selbsterfüllend: Goldman Sachs prognostiziert 220.000 Dollar, Menschen kaufen in dieser Hoffnung, die Käufe treiben den Preis, der steigende Preis bestätigt die Prognose, die wiederum weitere Käufer anzieht. Ein perfekter Kreislauf der Gier, orchestriert von jenen Institutionen, die Bitcoin eigentlich ersetzen sollte.

Die "Faktoren" als Kurstreiber sind dabei so vage, dass sie für jede Prognose herhalten können: Leitzinssenkungen könnten ein risikofreudigeres Umfeld schaffen – oder auch nicht. Saisonale Muster, Halving-Effekte, 90 ETF-Anträge bei der SEC – alles Kaffeesatzleserei mit Bloomberg-Terminal. Die Prognosespanne reicht von 133.000 Dollar (Citigroup) bis 220.000 Dollar (Goldman Sachs). Fast 70 Prozent Abweichung zwischen den "Experten". Und doch werden diese Zahlen als wissenschaftlich fundierte Gewissheiten behandelt.

Gemeinwohl als Kollateralschaden

Als Präsident von Pura Vida, unserem Verein für mobiles Leben, erlebe ich täglich, wie Gemeinschaft funktioniert: Menschen teilen Stellplätze, Erfahrungen, Ressourcen. Sie verstehen, dass wahre Freiheit nicht im Egoismus liegt, sondern in der Solidarität.

Bitcoin hätte das digitale Äquivalent werden können. Stattdessen haben wir ein System, bei dem das Leid der Vielen zur Investmentchance der Wenigen wird. "Banking the unbanked" – dieser Slogan ist eine Farce. Die Menschen ohne Bankzugang haben kein Geld, um bei 125.000 Dollar pro Bitcoin einzusteigen. Bitcoin ist heute ein Spielzeug der westlichen Mittel- und Oberschicht.

Das digitalworld Academy Experiment

An der digitalworld Academy planen wir gerade, unsere Kurse nicht nur in Euro sondern auch in Bitcoin anzubieten – nicht aus Überzeugung, sondern um die Absurdität zu demonstrieren. Soll ein Kurs 0,0023 Bitcoin kosten? Bei 125.000 Dollar sind das 287,50 Euro. Bei Goldman Sachs' Prognose von 220.000 Dollar plötzlich 506 Euro. Beim Worst-Case von 64.000 Dollar nur 147,20 Euro. Eine Währung, deren Wert um 260 Prozent schwanken kann, ist keine Währung – sie ist ein Casino-Chip.

Die Flucht ins Analoge

Als diagnostizierter Sozialphobiker schätze ich die Distanz zu Menschen – aber manchmal brauche ich auch Distanz zur Technologie. Eine Auszeit von einer Welt, in der jede Innovation von Gier korrumpiert wird, in der selbst eine Revolution gegen das Finanzsystem am Ende von den Banken vereinnahmt wird.

Meine Frau, die Psychotherapeutin, hat recht: Nicht jedes Problem braucht eine technologische Lösung. Manchmal ist der größte Fortschritt, innezuhalten und zu fragen: Wem nützt das eigentlich?

Bei Bitcoin ist die Antwort eindeutig: Es nützt Goldman Sachs, JPMorgan, den Vermögenden, den Spekulanten. Es nützt nicht jenen, deren Not als "Katalysator" für steigende Kurse gefeiert wird.

Das Ende einer Illusion

Die Sonne steht nun höher über dem Karmelitermarkt. Der junge Spekulant hat das Café verlassen, zufrieden mit seinen Prognosen von den gleichen Banken, die Bitcoin eigentlich überflüssig machen sollte. Er merkt die Ironie nicht.

Bitcoin ist gescheitert – nicht technologisch, sondern moralisch. Es ist zur digitalen Verkörperung dessen geworden, was es bekämpfen sollte: Ein System, in dem die Reichen reicher werden, während die Hoffnung und das Leid der Vielen als Treibstoff dienen.

Phil Roosen schreibt diese Kolumne aus dem tewa. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.

P.S.: Die digitalworld Academy startet bald ihr Bitcoin-Experiment. Nicht weil wir an das System glauben, sondern weil das Scheitern ein ganz gute Lehre ist.

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