Kolumne "Digitale Zwischenräume" - The Digioneer, Donnerstag, 9. Januar 2025
Vom Fenster der DigitalWorld Academy aus beobachte ich den winterlichen Nieselregen, der die Silhouette Wiens in einen melancholischen Grauschleier hüllt. Auf meinem Bildschirm flimmern die neuesten Nachrichten zur gescheiterten Regierungsbildung. Eine bemerkenswerte Ironie: In Zeiten, in denen künstliche Intelligenz komplexeste Probleme in Sekundenschnelle lösen soll, schaffen wir es nicht einmal, eine funktionsfähige Regierung zu bilden.
Als diagnostizierter Sozialphobiker verfolge ich diese Entwicklungen mit einer Mischung aus professionellem Interesse und persönlicher Beunruhigung. Die stärkste Fraktion im Parlament, deren Rhetorik sich wie ein Echo aus längst vergangen geglaubten Zeiten anhört, führt nun die Koalitionsverhandlungen. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst das mulmige Gefühl in den Kaffeehäusern dieser Stadt – jenen Orten, wo sich traditionell das intellektuelle Leben Wiens verdichtet.
Natürlich gibt es sie, die technokratische Gegenvision: Eine artifizielle Superintelligenz, die das Land nach den aggregierten Wünschen seiner Bürger:innen verwaltet, demokratisch legitimiert durch permanente App-Befragungen, finanziert durch eine elegante Geldtransaktionssteuer (GTS). Ein digitaler Leviathan, der Bildung, Wissenschaft und Sozialstaat orchestriert wie ein perfekt programmiertes Orchester. Eine verlockende Utopie – oder vielleicht der nächste Schritt in unserer Flucht vor der menschlichen Verantwortung?
Gestern Abend beobachtete ich einen jungen Mann am Nebentisch, völlig versunken in sein Smartphone. Kein ungewöhnlicher Anblick, werden Sie sagen. Doch er führte keine gewöhnliche Chat-Konversation – er kommunizierte mit einer KI-Partnerin auf Replika. Seine Mimik, seine emotionale Investition, seine völlige Versunkenheit in diesen künstlichen Dialog – all das war ebenso faszinierend wie beunruhigend.
Die Menschen suchen nach Halt in einer Welt, die sich mit der Geschwindigkeit eines Quantencomputers verändert. Sie finden ihn nicht in den undurchschaubaren Mechanismen der Digitalisierung, nicht in den abstrakten Versprechungen der Technologiekonzerne, und offenbar auch nicht mehr in den traditionellen demokratischen Institutionen. Stattdessen flüchten sie sich entweder in die einfachen Antworten der Populisten oder in die algorithmisch optimierten Arme virtueller Gefährten.
Es ist eine bittere Ironie: Während wir Millionen von Steuergeldern in eine scheinbar endlose Regierungsbildung investieren, geben Menschen bereitwillig Geld aus, um sich von KI-gestützten Chatbots emotionale Unterstützung zu holen. Character.ai, Replika und Co. werden zu digitalen Beichtvätern einer orientierungslosen Gesellschaft. Der Algorithmus als Seelsorger, die künstliche Intelligenz als Therapeut – wir haben die Grenze zwischen technologischer Hilfestellung und emotionaler Abhängigkeit längst überschritten.
Vom Schreibtisch aus sehe ich die Türme der Votivkirche in den grauen Himmel ragen. Die Austrittszahlen aus den traditionellen Kirchen erreichen Rekordhöhen. An sich keine überraschende Entwicklung in unserer säkularen Gesellschaft. Doch was mich nachdenklich stimmt: Wir haben versäumt, die entstehende Leere mit etwas Substantiellem zu füllen.
Die technologische Entwicklung hat uns viele Annehmlichkeiten gebracht, keine Frage. Aber sie hat auch eine fundamentale Unsicherheit erzeugt, eine spirituelle Obdachlosigkeit. In dieser Leere gedeihen sowohl populistische Heilsversprechen als auch die digitale Ersatzintimität der KI-Companions. Beide bieten simple Antworten auf komplexe Fragen, beide schaffen eine Illusion von Kontrolle und Verständnis in einer zunehmend unüberschaubaren Welt.
In den Kommentarspalten der Online-Medien, in den aufgeheizten Diskussionen der sozialen Netzwerke zeigt sich diese Orientierungslosigkeit in ihrer hässlichsten Form. Die Radikalisierung schreitet voran, befeuert von Algorithmen, die auf Engagement optimiert sind, nicht auf gesellschaftlichen Zusammenhalt. Währenddessen führen immer mehr Menschen intensive Gespräche mit ihren KI-Freunden über ihre tiefsten Ängste und Hoffnungen – ein Dialog, der nie die Komfortzone verlässt, der nie wirklich herausfordert.
Was wir brauchen, ist keine weitere App, kein schnelleres Netzwerk, keine smartere KI. Was wir brauchen, ist ein neues Narrativ, eine zeitgemäße Form des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die weder in blinde Technikhörigkeit noch in reaktionäre Technophobie verfällt. Wir brauchen Denkmodelle, die uns helfen, die digitale Transformation nicht nur technisch, sondern auch spirituell und emotional zu bewältigen – und vor allem brauchen wir eine Politik, die diese Transformation aktiv gestaltet, statt sich in endlosen Machtspielen zu verlieren.
Der Regen hat aufgehört, ein fahler Sonnenstrahl bricht durch die Wolken. Vielleicht ein Zeichen? Wohl kaum. Aber die Sehnsucht nach Zeichen, nach Bedeutung, nach echtem menschlichen Kontakt – sie ist geblieben, allen Algorithmen zum Trotz. Während unsere gewählten Vertreter weiter um Posten und Macht schachern, suchen die Menschen ihr Heil in virtuellen Welten. Eine gefährliche Entwicklung, die uns alle betrifft – egal ob wir mit einer KI chatten oder nicht.
Phil Roosen schreibt diese Kolumne von seinem temporären Arbeitsplatz in der DigitalWorld Academy. Seine Kolumne "Digitale Zwischenräume" erscheint jeden Donnerstag in The Digioneer.