Stell dir vor, du gehst ins Stadion, ins Kino oder zur Arbeit – und statt nach deinem Ticket oder deiner Zugangskarte zu kramen, blickst du einfach kurz in eine Kamera. Ein Sekundenbruchteil später öffnet sich die Tür. Klingt nach Science-Fiction? Ist es aber nicht mehr. Wickets biometrisches Gesichtserkennungssystem hat gerade die Fünf-Millionen-Scans-Marke geknackt. Und während die einen von Effizienz und Komfort schwärmen, fragen sich andere: Wer kontrolliert eigentlich all diese Gesichtsdaten – und was passiert, wenn sie in die falschen Hände geraten?
Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich auch Sam Altmans umstrittenstes Projekt: Worldcoin. Der OpenAI-Chef, der uns ChatGPT beschert hat, will nun die globale Identität revolutionieren – mit Iris-Scans. Kein Passwort, keine ID-Karte, nur dein Auge. Die Frage ist: Ist das der Weg in eine gerechtere digitale Zukunft oder der Startschuss für den perfekten Überwachungsstaat?
Die Vision: Eine digitale Identität für alle
Sam Altmans Worldcoin verfolgt eine ambitionierte Mission: Jedem Menschen auf diesem Planeten eine verifizierte digitale Identität zu geben. In einer Welt, in der KI-generierte Inhalte und Deepfakes zunehmend von echten Menschen ununterscheidbar werden, soll Worldcoin die Antwort auf die Frage sein: "Bist du ein Mensch?"
Das Konzept klingt zunächst bestechend: Du gehst zu einer "Orb" genannten Kugel, lässt deine Iris scannen, und erhältst im Gegenzug eine eindeutige digitale Identität – plus eine Kryptowährung als Willkommensgeschenk. Diese World ID soll beweisen können, dass du ein echter Mensch bist, ohne preiszugeben, wer genau du bist.
Die Technologie verspricht drei revolutionäre Anwendungsfälle:
1. Beweis der Menschlichkeit: In Zeiten von KI-generierten Bots wird die Frage "Bist du echt?" zur kritischen Infrastruktur des Internets.
2. Finanzielle Inklusion: 1,7 Milliarden Menschen weltweit haben keine offizielle Identität. Worldcoin könnte ihnen Zugang zu digitalen Finanzdienstleistungen verschaffen.
3. Universelles Grundeinkommen: Wenn KI zunehmend Jobs übernimmt, könnte eine verifizierte digitale Identität die faire Verteilung von KI-generierten Gewinnen ermöglichen.
Faszinierend, oder? Aber halt – bevor wir in Euphorie verfallen, schauen wir uns die Schattenseiten an.
Die Realität: Wenn gute Absichten auf harte Fakten treffen
Worldcoin hat seit seinem Start 2023 bereits über 15 Millionen Menschen weltweit gescannt – mit aggressiven Marketing-Kampagnen, die besonders in Entwicklungsländern für Kontroversen sorgen. In Kenia etwa wurden Menschen mit kostenlosen Krypto-Token gelockt, bevor die Regierung das Projekt vorerst stoppte. Der Vorwurf: unzureichende Aufklärung über die Verwendung der biometrischen Daten.
Das Kernproblem liegt in der Natur biometrischer Daten: Dein Gesicht und deine Iris kannst du nicht ändern. Wenn dein Passwort gehackt wird, änderst du es. Wenn deine Kreditkartennummer gestohlen wird, sperrst du sie. Aber was machst du, wenn deine biometrischen Daten kompromittiert werden?
Worldcoin beteuert, dass die Iris-Scans sofort in verschlüsselte, anonyme Codes umgewandelt und die Rohdaten gelöscht werden. Doch selbst wenn wir dieser Zusicherung vertrauen – was passiert in zehn, zwanzig Jahren? Wer garantiert, dass künftige Regierungen oder Hacker nicht Wege finden, diese Systeme zu missbrauchen?
Die Parallele zu Wicket ist aufschlussreich: Das Ticketing-System arbeitet mit lokaler Verarbeitung und verschlüsselten Templates. Nutzer müssen aktiv zustimmen, und traditionelle Alternativen bleiben parallel verfügbar. Genau diese Wahlfreiheit und Transparenz vermissen Kritiker bei Worldcoin.
Die Chancen: Was im besten Fall passieren könnte
Ignorieren wir für einen Moment die berechtigten Bedenken und schauen auf das transformative Potenzial:
Finanzielle Inklusion auf Steroiden: In Ländern ohne funktionierende Meldesysteme könnte Worldcoin tatsächlich Millionen Menschen den Zugang zu digitalen Finanzdienstleistungen ermöglichen. Eine verifizierte Identität öffnet Türen zu Mikrokrediten, Online-Banking und internationalen Überweisungen – alles ohne Geburtsurkunde oder Reisepass.
Die Bot-Apokalypse verhindern: Wenn KI-generierte Inhalte das Internet überfluten, brauchen wir einen Weg, echte menschliche Stimmen von synthetischen zu unterscheiden. Eine dezentrale, verifizierte Identität könnte Social Media, Online-Abstimmungen und digitale Diskussionen retten.
Gerechtere KI-Wirtschaft: Stell dir vor, die Gewinne, die KI-Systeme generieren, würden fair an alle Menschen verteilt – möglich gemacht durch eine universelle digitale Identität. Das könnte die Grundlage für ein weltweites Grundeinkommen sein, das die soziale Verwerfungen der KI-Revolution abfedert.
In diesem optimistischen Szenario wäre Worldcoin nicht weniger als die Infrastruktur für eine gerechtere digitale Zukunft. Aber – und das ist ein großes Aber – dieser Best Case setzt voraus, dass alles nach Plan läuft. Und wann ist in der Tech-Geschichte je alles nach Plan gelaufen?
Die Risiken: Das Dystopie-Szenario
Während Sam Altman von finanzieller Inklusion spricht, sehen Datenschützer bereits die Konturen des perfekten Überwachungsstaats:
1. Zentrale Kontrolle trotz Blockchain: Auch wenn Worldcoin auf dezentraler Technologie basiert – die "Orbs" selbst werden zentral von einem Unternehmen kontrolliert. Wer kontrolliert, welche Augen gescannt werden und welche nicht, hält gewaltige Macht.
2. Der Colonial-Tech-Vorwurf: Dass Worldcoin besonders aggressiv in Afrika und Lateinamerika expandiert, während Europa skeptisch bleibt, erinnert unangenehm an koloniale Muster. Die Menschen mit am wenigsten rechtlichem Schutz werden zu Testsubjekten für westliche Tech-Experimente.
3. Funktion Creep: Was als freiwilliges Identitätssystem beginnt, könnte zur Voraussetzung für die Teilnahme am digitalen Leben werden. "Kein World ID, kein Zugang" – so könnte die Zukunft aussehen, wenn Regierungen oder Konzerne das System zur Pflicht machen.
4. Die Datenleck-Zeitbombe: Selbst wenn die heutigen Sicherheitsmaßnahmen robust sind – wer garantiert, dass Quantencomputer in 15 Jahren nicht alle heutigen Verschlüsselungen knacken können? Biometrische Daten sind für immer. Ein Hack wäre irreversibel.
Die deutsche Datenschutzbehörde hat Worldcoin bereits unter die Lupe genommen, Spanien und Kenia haben Untersuchungen eingeleitet. Die europäische DSGVO könnte dem Projekt den Garaus machen – zumindest in Europa.
Das Wicket-Modell: Ein besserer Weg?
Zurück zum biometrischen Ticketing von Wicket, das gerade die 5-Millionen-Marke geknackt hat. Hier zeigt sich ein alternativer Ansatz:
Opt-in statt Pflicht: Niemand muss Gesichtserkennung nutzen. Traditionelle Tickets funktionieren weiterhin.
Lokale Verarbeitung: Die Daten werden direkt am Gerät verarbeitet, nicht in einer zentralen Cloud.
Transparente Nutzung: Wicket erklärt klar, wofür die Daten verwendet werden – und wofür nicht.
Begrenzte Anwendung: Das System wird nur für einen spezifischen Zweck genutzt, nicht als universelle Identitätslösung.
Dieser Ansatz zeigt: Biometrische Systeme müssen nicht per se dystopisch sein. Es kommt auf die Umsetzung an – auf Transparenz, Wahlfreiheit und strenge Zweckbindung.
Was wir von Worldcoin lernen können
Unabhängig davon, ob Worldcoin scheitert oder triumphiert – das Projekt zwingt uns, wichtige Fragen zu stellen:
Wer kontrolliert unsere digitale Identität? Sollte sie dezentral und staatlich unabhängig sein – oder brauchen wir demokratisch legitimierte Institutionen als Wächter?
Wie balancieren wir Inklusion und Datenschutz? Die Menschen, die am meisten von digitaler Identität profitieren würden, haben oft den schwächsten rechtlichen Schutz.
Können wir biometrische Systeme regulieren, bevor sie ubiquitär werden? Oder rennen Regierungen wieder der Technologie hinterher, statt sie proaktiv zu gestalten?
Deine Entscheidung: Bist du bereit für die biometrische Zukunft?
Die Frage ist nicht, ob biometrische Identitätssysteme kommen – sie sind bereits da. Die Frage ist: Welche Form werden sie annehmen? Und wer entscheidet darüber?
Als informierter Digital Professional hast du mehrere Optionen:
- Informiere dich: Verstehe, wie Systeme wie Worldcoin und Wicket funktionieren. Nur wer die Technologie versteht, kann mitreden.
- Fordere Transparenz: Wenn dein Arbeitgeber, dein Sportstadion oder deine Bank biometrische Systeme einführt – stelle kritische Fragen über Datenschutz und Alternativen.
- Unterstütze Regulierung: Setze dich für klare gesetzliche Rahmenbedingungen ein, die biometrische Daten besonders schützen.
- Bewahre dir Wahlfreiheit: Nutze biometrische Systeme nur dort, wo du ihnen wirklich vertraust – und bestehe auf dem Recht, sie abzulehnen.
Die biometrische Revolution ist keine ferne Zukunft mehr – sie passiert jetzt, während du diese Zeilen liest. Die Frage, die The Digioneer dir stellt, ist dieselbe wie immer: Bist du bereit für die Zukunft? Und wenn ja – für welche?
Die Antwort liegt nicht in blinder Akzeptanz oder pauschaler Ablehnung, sondern in kritischer Aufmerksamkeit und aktiver Mitgestaltung. Dein Auge mag die Eintrittskarte zur digitalen Zukunft sein – aber wer die Tür dahinter kontrolliert, entscheiden wir alle gemeinsam.
Weiterführende Ressourcen:
- Worldcoin Website – Offizielle Informationen zum Projekt
- Electronic Frontier Foundation: Biometric Surveillance – Kritische Perspektive
- EU DSGVO und Biometrie – Rechtlicher Rahmen in Europa
Dieser Artikel erschien im The Digioneer, 25. Oktober 2025. Für mehr Einblicke in die digitale Transformation, die dich wirklich betrifft, folge uns.
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The DigioneerMichael Kainz
The DigioneerJulie Wild