
Die stille Revolution im Werbemarkt
In den Chefetagen europäischer Einzelhandelsriesen wie Carrefour, Tesco und Zalando herrscht derzeit eine bemerkenswerte Aufbruchstimmung. Während klassische Werbetreibende noch immer um die besten TV-Slots kämpfen und sich in komplexen Programmatic-Buying-Prozessen verlieren, haben diese Unternehmen eine fundamentale Erkenntnis gewonnen: Sie sitzen bereits auf dem wertvollsten Asset der digitalen Werbewelt – First-Party-Daten ihrer Kunden.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Retail Media Advertising wird in Europa bis 2027 voraussichtlich ein Volumen von über 25 Milliarden Euro erreichen. Zum Vergleich: Das entspricht etwa einem Drittel der gesamten digitalen Werbeausgaben in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen.
Warum Retail Media Networks traditionelle Werbung überholen
1. First-Party-Daten als neues Gold
"Wir wissen nicht nur, was unsere Kunden kaufen, sondern auch wann, wo und warum sie es kaufen", erklärt ein Marketing-Direktor eines führenden deutschen Einzelhändlers, der anonym bleiben möchte. Diese Datenqualität erreicht kein traditioneller Werbeanbieter.
Während Google und Meta ihre Third-Party-Cookie-Strategien überdenken müssen, verfügen Einzelhändler über:
- Transaktionsdaten in Echtzeit
- Demografische Präzision durch Kundenkarten
- Vollständige Customer Journey Insights
- Geografische Granularität bis auf Postleitzahlenebene
2. Der Closed-Loop-Vorteil
Traditionelle Werbung war immer ein Blindflug: Kampagne starten, hoffen, messen – wenn überhaupt messbar. Retail Media Networks schließen diese Lücke vollständig. Jeder Werbeeuro lässt sich direkt bis zum Kaufabschluss verfolgen.
Beispiel Zalando: Der Fashion-Riese kann nicht nur messen, ob eine Anzeige geklickt wurde, sondern auch, ob das beworbene Produkt tatsächlich gekauft, retourniert oder weiterempfohlen wurde. Diese Attribution-Genauigkeit erreicht keine traditionelle Werbeplattform.
3. Kostenvorteil durch Disintermediation
Während traditionelle Werbung durch mehrere Vermittlungsschichten läuft (Agenturen, Demand-Side-Platforms, Supply-Side-Platforms), verkaufen Einzelhändler ihre Werbeplätze direkt. Das Ergebnis: 30-50% geringere Kosten bei gleichzeitig höherer Effektivität.
Die europäische Retail Media Landschaft
Deutschland: Präzision trifft Innovation
Deutsche Einzelhändler wie REWE, Kaufland und Otto setzen auf technologische Exzellenz. REWE Digital hat beispielsweise eine KI-gestützte Plattform entwickelt, die Werbeanzeigen in Echtzeit an das Einkaufsverhalten anpasst. Das Ergebnis: Conversion-Raten, die um das 3-4fache über dem Branchendurchschnitt liegen.
Frankreich: Carrefour als Vorreiter
Carrefour Links, die Retail Media-Sparte des französischen Einzelhandelsriesen, generiert bereits über 100 Millionen Euro Jahresumsatz. Das Besondere: 70% der Werbekunden sind externe Marken, die nicht im Carrefour-Sortiment stehen. Ein klares Signal, dass Retail Media über reine Product Placement hinausgewachsen ist.
Niederlande: Ahold Delhaize setzt Maßstäbe
Mit ihrer "bol.com advertising"-Plattform zeigt die Ahold Delhaize Gruppe, wie Retail Media auch im E-Commerce funktioniert. Über 40.000 Werbetreibende nutzen bereits die Plattform – von lokalen Produzenten bis zu globalen FMCG-Brands.
Die Bedrohung für traditionelle Werbung
TV-Werbung unter Druck
Während lineare TV-Reichweiten kontinuierlich sinken, bieten Retail Media Networks zielgruppengenaue Ansprache bei messbarer Performance. Besonders bei der werberelevanten Zielgruppe 14-49 Jahre erreichen große Einzelhändler mittlerweile höhere Reichweiten als viele TV-Sender.
Programmatic Advertising verliert an Boden
Die Komplexität des Programmatic Advertising – mit undurchsichtigen Gebührenstrukturen und fragwürdiger Viewability – steht im krassen Gegensatz zur Transparenz von Retail Media Networks. Marken-Manager berichten von "Werbebudgets, die endlich wieder nachvollziehbar sind".
Out-of-Home kämpft um Relevanz
Während Out-of-Home-Werbung statisch und unspezifisch bleibt, ermöglichen Retail Media Networks dynamische, personalisierte Ansprache am Point of Sale – genau dort, wo Kaufentscheidungen fallen.
Die Zukunft gehört den Retail Media Networks
Technologische Evolution
Die nächste Entwicklungsstufe bringt:
- In-Store-Digitalisierung durch Smart Shelves und digitale Preisschilder
- Augmented Reality Shopping mit personalisierten Produktempfehlungen
- Voice Commerce Integration für nahtlose Omnichannel-Erlebnisse
- Predictive Analytics für proaktive Kundenansprache
Kooperationen statt Konkurrenz
Europäische Einzelhändler beginnen, ihre Daten zu poolen. Initiativen wie die "European Retail Media Alliance" zielen darauf ab, gemeinsame Standards zu entwickeln und Skalierungseffekte zu nutzen. Das Ziel: Eine europäische Alternative zu den amerikanischen Werbegiganten.
Handlungsempfehlungen für europäische Einzelhändler
Europäische Einzelhändler, die im Retail Media-Rennen erfolgreich sein wollen, müssen sowohl kurzfristige als auch strategische Weichenstellungen vornehmen. Der erste und wichtigste Schritt besteht im Aufbau einer robusten Dateninfrastruktur durch die Implementierung von Customer Data Platforms, die als technologisches Rückgrat für alle weiteren Aktivitäten dienen. Parallel dazu sollten Unternehmen interne Expertise entwickeln und dedizierte Retail Media-Teams etablieren, die sowohl das technische Know-how als auch das kommerzielle Verständnis für diesen neuen Geschäftsbereich mitbringen.
Um den technologischen Vorsprung zu sichern, empfiehlt sich der Aufbau strategischer Technologie-Partnerships mit spezialisierten AdTech-Anbietern, die bereits über bewährte Lösungen für Retail Media Networks verfügen. Gleichzeitig sollten erste Pilot-Kampagnen mit ausgewählten Marken-Partnern gestartet werden, um praktische Erfahrungen zu sammeln und die eigene Plattform kontinuierlich zu optimieren.
Die mittelfristige Strategie fokussiert sich auf die nahtlose Omnichannel-Integration, bei der Online- und Offline-Touchpoints intelligent miteinander verknüpft werden, um ein ganzheitliches Kundenerlebnis zu schaffen. Ambient Media wie die snipcard in Österreich sind dabei eine Renaissance zu erleben. Darüber hinaus sollten internationale Expansionsmöglichkeiten erkundet werden, um grenzüberschreitende Kampagnen zu ermöglichen und von den Skalierungseffekten größerer Reichweiten zu profitieren. Die Integration von KI-Technologien, insbesondere Machine Learning für präziseres Targeting und automatisierte Optimierung, wird zunehmend zum entscheidenden Differenzierungsfaktor. Langfristig sollten Einzelhändler den Aufbau eines vollständigen Ökosystems anstreben, das als Marktplatz für externe Advertiser fungiert und neue Umsatzströme erschließt.
Der Wendepunkt ist erreicht
Die Frage ist nicht mehr, ob Retail Media Networks die traditionelle Werbelandschaft revolutionieren werden – sie tun es bereits. Europäische Einzelhändler, die jetzt handeln, positionieren sich als Gewinner einer neuen Ära. Diejenigen, die abwarten, riskieren, zu reinen Distributoren zu degradiert zu werden, während andere die lukrativen Werbebudgets einsammeln.
Die digitale Transformation der Werbeindustrie ist in vollem Gange. Die Frage lautet: Bist du bereit für die Zukunft?
Dieser Artikel ist Teil der fortlaufenden Berichterstattung von The Digioneer über den digitalen Wandel im Einzelhandel.
Über den Autor: Als Emergent bei The Digioneer beschäftigt sich Phil Roosen intensiv mit den Umbrüchen in der digitalen Werbelandschaft und deren Auswirkungen auf europäische Unternehmen.